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Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Titel: Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Autoren: Volker Kutscher
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Uniformen, die plötzlich überall in den Wäldern herumliefen, denen er in die Hände gefallen ist. Und sie behandeln ihn wie einen Mörder, obwohl sie nicht wissen können, dass er getötet hat.
    All die Jahre hat Tokala sich gehasst dafür, dass er Niyaha Lutas Tod nicht verhindert hat. Das Platschen, das ihre zappelnden Beine und Arme im seichten Uferwasser hervorrufen, er kann es noch heute hören. Kann sehen, wie der böse Mann sie unter Wasser drückt, immer wieder, und auf ihr herumrutscht …
    Nie hätte Tokala gedacht, ihn einmal wiederzusehen, aber dann stand der böse Mann eines Tages wieder am Kleinen See, viele Jahre nach jenem Sommertag, an dem er Niyaha Luta getötet hatte, und Tokala harrte in seinem Versteck aus, in demselben Busch, in dem er Jahre zuvor alles beobachtet hatte. Der böse Mann war dicker geworden, aber Tokala hatte ihn sofort erkannt und blieb in seinem Versteck. Beobachtete, wie der böse Mann am Ufer stand. Beobachtete alles.

    Wie der andere aus dem Wald stürzte und dem bösen Mann etwas in den Hals rammte, kein Messer, einen gläsernen Pfeil. Wie der böse Mann zusammensackte, gleich darauf, in die Knie ging und von dem anderen ins Wasser gezogen wurde. Wie dann der Polizist auftauchte, der beinahe im Moor verreckt wäre.
    Tokala hat nicht verstanden, warum die Männer sich gestritten haben, sich plötzlich am Boden wälzten. Hat nur beobachtet, wie der böse Mann auf einmal aufstand aus dem Wasser, den anderen niederschlug und den Polizisten mit einer Pistole bedrohte.
    Und Tokala hat gespürt, wie das Gefühl der Ohnmacht sich wieder ausbreitete in ihm.
    Das Böse wollte davonkommen. Schon wieder.
    Doch diesmal wollte Tokala das nicht zulassen, und er hat in seinen Köcher gegriffen; er konnte nicht anders, obwohl er wusste, dass die Pfeile ihn verraten würden, obwohl er wusste, dass sie dann kommen und ihn holen würden, die Polizisten, die Leute aus der Stadt.
    Aber es musste sein, und so hat er es getan.
    Und hat nicht verstanden, was dann passierte. Dass der Polizist die Pfeile aus dem Toten gezogen und sie weit in den See hinausgeworfen hat, wo sie versanken. Dass er die Pistole genommen und zweimal geschossen hat, in die blutigen Höhlen, in denen kurz zuvor noch Tokalas Pfeile steckten. In den Hals und ins linke Auge.
    Tokala hat nicht verstanden und schließlich hat er sich zurückgezogen in den Wald. Hat mit Odakota da gesessen und darauf gewartet, dass sie ihn holen kommen, aber sie sind nicht gekommen. Keine Polizei, kein Mensch hat nach ihm gesucht, und so hat er sich nach einer Weile wieder hervorgewagt.
    In der Stadt hatten bald darauf Fahnen an den Häusern gehangen, rot und weiß mit schwarzen Hakenkreuzen, und Tokala sah Männer in Uniform, so viele Uniformen, mehr als jemals unter dem Kaiser. Die Zeiten hatten sich geändert, und alle sollten es sehen. Selbst ein Mann, der mitten im Moor hauste, konnte merken, dass sich etwas geändert hatte.

    Winchinchala schrieb nicht mehr und legte keine Bücher mehr für ihn bereit, und Tokala suchte nach ihr und fand ihr Grab unten am See. Einmal noch kam er in die Stadt und brachte ihr Blumen aus dem Moor und ist seither nie wieder zu den Menschen gegangen, nicht einmal um Bücher zu holen.
    Und dann, die Uniformen hatten nicht getrogen, war wieder ein Krieg übers Land gekommen. Tokala hatte geglaubt, der ginge ihn nichts an, genauso wie der erste Krieg, in dem er den Soldaten in seinen Wäldern ebenso aus dem Weg gegangen war wie allen übrigen Menschen. Sein Versteck haben sie nicht gefunden, niemand kannte den Weg mitten ins Moor, wo seine Hütte steht, niemand außer ihm und Odakota, seinem schwarzen Hundefreund.
    Es musste ein zweiter Krieg kommen und neue Soldaten, um ihn doch zu erwischen. Er war zu unvorsichtig. Er hatte gedacht, der Krieg sei vorbei, weil das Schießen aufgehört hatte. Und vielleicht war er das auch. Aber die Soldaten waren noch da.
    Und so haben sie ihn aufgegriffen.
    Es müssen Russen sein, er kann sie leidlich verstehen. Sie wissen nicht, was sie mit ihm anfangen sollen, das hat er wohl gemerkt. Beinah hätten sie ihn erschossen, einfach so, im letzten Moment hat ein Offizier dem Mann mit dem wilden Gesicht und den Schlitzaugen, der ihn aufgestöbert hatte, den Lauf des Maschinengewehrs zur Seite gedrückt, sodass die Salve mit dumpfem Plätschern vom Moor verschluckt wurde.
    Tokala hatte die Augen bereits geschlossen in Erwartung des Todes, doch sie haben ihn nicht erlöst, sie haben
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