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Die Akte Golgatha

Die Akte Golgatha

Titel: Die Akte Golgatha
Autoren: Philipp Vandenberg
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sichtbar wurde.
    Nach allem, was ich im Umgang mit Menschen je erlebt hatte, war dies die wohl ungewöhnlichste Geschichte, die mir je widerfahren ist, und auch mit dem Einsatz größter Fantasie fand ich keine Erklärung für das Verhalten des Professors. Ich muss gestehen, ich wäre weniger verwundert gewesen, hätte Gropius eine Pistole hervorgezogen und den Lauf mit einem fadenscheinigen Ansinnen auf mich gerichtet. So aber klopfte der Professor mit der geballten Faust auf die Papiere und sagte nicht ohne Stolz: »Das ist eine Art Tagebuch der zweihundert schlimmsten Tage meines Lebens. Und wenn ich es lese, erkenne ich mich selbst nicht mehr wieder.«
    Staunend, ja ratlos, blickte ich abwechselnd auf die Papiere und das Gesicht des Professors, der zweifellos meine Unsicherheit genoss wie ein Duellant, der seinem Gegner eine Niederlage beigebracht hat. Und so kam es, dass einige Zeit verging, bis ich meinem Gegenüber die nahe liegende Frage stellte: »Und was ist der Inhalt dieses Manuskripts?«
    Inzwischen war es Mittag geworden, und auf der westwärts gewandten Terrasse tauchten die ersten Sonnenstrahlen auf. Im Innern des Hotels, in dem nur drei Zimmer belegt waren, machte sich die Signora bemerkbar. Mit einem nicht enden wollenden Redeschwall erbot sie sich, mir und meinem Gast eine Pasta zu servieren, natürlich Spaghetti alla pescatore.
    Nachdem Signora Moretti gegangen war, wiederholte ich meine Frage, aber Gropius wich aus und antwortete mit einer Gegenfrage, die ich zunächst nicht verstand: »Sind Sie eigentlich ein frommer Mensch?«
    »Bei Gott, nein«, erwiderte ich, »wenn Sie damit fragen wollen, ob ich ein Anhänger der Kirche bin.«
    Der Professor nickte. »Das meinte ich.« Und nach kurzem Zögern: »Es könnte nämlich sein, dass mein Bericht Sie in Ihrem Innersten verletzt, mehr noch, dass Ihr Glaube zutiefst erschüttert wird und Sie die Welt danach mit anderen Augen sehen.«
    Befallen von einer gewissen Ratlosigkeit gegenüber dem seltsamen Professor, versuchte ich aus der Art seiner Rede, aus seinen sparsamen Gesten meine Schlüsse zu ziehen – wenn ich ehrlich bin, mit geringem Erfolg. Je länger ich Gropius meine Aufmerksamkeit schenkte, desto rätselhafter erschien mir sein Verhalten, desto faszinierter hörte ich ihm aber auch zu. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, worauf er hinauswollte, aber für den Fall, dass Gropius nicht verrückt war – und er machte wirklich nicht gerade den Eindruck –, musste er eine äußerst brisante Entdeckung gemacht haben.
    »Man hat mir zehn Millionen Euro Schweigegeld geboten«, sagte der Professor in einem Tonfall, der kaum eine Emotion erkennen ließ.
    »Ich hoffe, Sie haben das Geld genommen«, erwiderte ich mit ironischem Unterton.
    »Sie glauben mir nicht«, meinte der Professor. Er klang enttäuscht.
    »Doch, doch!«, beeilte ich mich zu beteuern. »Ich wüsste nur allzu gerne, worum es eigentlich geht.« Seine Frage nach dem Grad meiner Frömmigkeit deutete ja in eine gewisse Richtung; aber mir wurden im Laufe meines Lebens schon eine Menge Skandale im Zusammenhang mit der Kirche zugetragen, von denen der eine oder andere sogar in einem Buch seinen Niederschlag fand, seien es Finanzskandale der Vatikanbank, Klöster für schwangere Nonnen oder ein Versandhaus für Spezialkleidung masochistischer Mönche. Was sollte mich da noch schrecken!
    Ohne sich von seinem Stuhl zu erheben, reckte Gropius den Hals und blickte über die Balustrade in Richtung der Piazza Trento. Dann wandte er sich mir zu und sagte: »Entschuldigen Sie mein seltsames Verhalten. Ich leide noch immer ein bisschen unter Verfolgungswahn; aber wenn Sie meine Geschichte gehört haben, werden Sie mir das nicht verübeln. Sehen Sie die beiden Männer da unten?« Gropius machte eine kurze Kopfbewegung hinunter zur Straße, wo sich zwei dunkel gekleidete Männer vor einem unscheinbaren Lancia unterhielten. Als ich mich über die Balustrade beugte, um einen Blick auf die Straße zu werfen, wandten die Männer mir wie zufällig den Rücken zu.
    Vorübergehend geriet unsere Unterhaltung ins Stocken, weil die Signora mit breitem Lächeln und den üblichen Floskeln einer italienischen Köchin die Spaghetti servierte. Dazu tranken wir Frascati, nach Landessitte mit Wasser vermischt, und danach, wie sich das gehört, einen bitteren, schwarzen Espresso.
    Es war still geworden, in den umliegenden Häusern wurden die hohen, meist grün gestrichenen Fensterläden geschlossen: Siesta. Die
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