Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Akte Golgatha

Die Akte Golgatha

Titel: Die Akte Golgatha
Autoren: Philipp Vandenberg
Vom Netzwerk:
präzisem Automatismus ablief. Die Nachtschwester hatte Schlesinger gegen sechs Uhr geweckt, vom diensthabenden Stationsarzt wurde der Patient ein letztes Mal mit der anstehenden Operation vertraut gemacht. Die Narkoseärztin verabreichte ihm eine Beruhigungsspritze.
    Im Abstand weniger Minuten bogen der Fahrer von Eurotransplant und Professor Gropius in die Lindenallee ein. Gropius wählte den Weg zum rückwärtigen Personalparkplatz. Der Fahrer aus Frankfurt lieferte den Aluminiumkoffer mit dem Spenderorgan in der Notaufnahme ab. Er wurde bereits erwartet.
    Zwischen dem Eintreffen des Spenderorgans in der Klinik und dem Beginn der Operation vergehen in der Regel nicht mehr als fünfundvierzig Minuten. Auch an diesem Morgen nahmen die letzten Untersuchungen und das Präparieren der Spenderleber nicht mehr Zeit in Anspruch. Um 7 Uhr 10 lag das Organ in OP 3 zur Verpflanzung bereit.
    Gropius hatte in der Teeküche von Station 3 noch ein frugales Frühstück hinuntergeschlungen, zwei Brötchen mit Käse, einen Joghurt und mehrere Tassen Kaffee, dann begab er sich in den Vorraum zum Umkleiden und Waschen. Er war ein Morgenmuffel, aber die Mitarbeiter in seiner Umgebung wussten das und verhielten sich entsprechend, indem sie es bei einem kurzen »Morgen« beließen.
    Ein Team von fünf Ärzten, zwei Anästhesisten und vier Schwestern stand bereit, als der Professor um 7 Uhr 15 den OP betrat. Der Patient lag abgedeckt unter einem grünen Laken. Mit einem Handzeichen gab Gropius der Narkoseärztin das Zeichen zu beginnen. Minuten später nickte die Anästhesistin, der Professor setzte den ersten Schnitt.
    Es war kurz vor Mittag, als Professor Gregor Gropius als Erster aus dem Operationssaal in den Vorraum trat. Er hatte den Mundschutz herabgezogen und hielt die Arme hoch wie ein von der Polizei gestellter Gangster. Sein grüner Kittel war blutbefleckt. Eine Schwester trat hinzu und befreite den Professor von den Gummihandschuhen und der OP-Kleidung. Auch die anderen Mitglieder des Operationsteams fanden sich einer nach dem anderen in dem Vorraum ein. Jetzt herrschte gelöste Stimmung.
    »Mein Patient und ich danken der gesamten Mannschaft für die tatkräftige Mitwirkung!« Gropius führte die Hand mit militärischem Gruß zur Stirn; dann verschwand er, erschöpft und mit Ringen unter den Augen, in seinem Zimmer.
    In den letzten Tagen hatte Gropius wenig geschlafen, und wenn, dann nur schlecht. Das hing weniger mit seiner verantwortungsvollen Tätigkeit zusammen als mit Veronique, die ihm das Leben zur Hölle machte. Dieser Tage erst hatte er sich dabei ertappt, dass er darüber nachdachte, Veronique zu beseitigen, irgendwie, Ärzte kennen da die verschiedensten Methoden. Aber dann, wieder bei klarem Verstand, hatte er diese Gedanken bedauert, und seither war er ziemlich durcheinander, wurde von Albträumen verfolgt und von der Gewissheit, dass nur einer von ihnen diesen Kampf heil überstehen würde, Veronique oder er.
    Achtzehn Jahre Ehe waren eine lange Zeit, die meisten Ehen hielten heutzutage nicht einmal so lange, doch nun war sie eben am Ende. Aber mussten sie sich deshalb bis aufs Messer bekriegen? Mussten sie mit allen Mitteln versuchen, das Leben des anderen zu zerstören? Der Aufbau seiner Karriere hatte viel Mühe gekostet – von Geld ganz zu schweigen. Und jetzt wollte Veronique alles daran setzen, diese Karriere zu zerstören?
    Gropius nahm eine Captagon, wollte gerade zum Telefon greifen, um sich einen Kaffee kommen zu lassen, als das graue Gerät vor ihm einen piepsenden Laut von sich gab. Der Professor hob den Hörer ab: »Ich möchte die nächste halbe Stunde nicht gestört werden …« Er stockte. Und nach einer langen Schrecksekunde sagte er leise und mit einer gewissen Ratlosigkeit in der Stimme: »Das darf doch nicht wahr sein. Ich komme.«
    Zur selben Zeit betrat Veronique Gropius ein Bistro in der Nähe des Englischen Gartens. Sie war der Typ Frau, auf die sich alle Augen richteten, wenn sie ein Lokal betrat, nicht nur die Augen der Männer. Auch wenn sie an diesem Tag, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, eher dezent gekleidet war, erregte ihre aparte Erscheinung im dunklen Kostüm Aufsehen.
    Nur ein paar Tische waren um die Mittagszeit in dem Lokal, einem typischen Studenten- und Intellektuellentreff, besetzt, und so fiel Veronique der glatzköpfige, magere Mann an einem Tisch in der Mitte des Raumes gleich auf. Er sah genau so aus, wie er sich am Telefon beschrieben hatte, jedenfalls bestimmt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher