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Die Akte Golgatha

Die Akte Golgatha

Titel: Die Akte Golgatha
Autoren: Philipp Vandenberg
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oder irgendwelche Aufzeichnungen an sich presste wie ein Kind, das fürchtet, man wolle ihm sein Spielzeug wegnehmen. Schließlich winkte er die Stewardess herbei, ein ungewöhnlich hübsches, dunkelhaariges Mädchen, hob Zeige- und Mittelfinger nach oben und bestellte zwei Whisky. »Sie nehmen doch auch einen?«, fragte er.
    »Ich trinke keinen Whisky«, wiegelte ich ab.
    »Macht nichts. Nach diesem Erlebnis vertrage ich auch zwei.«
    Während der Mann zu meiner Rechten bedächtig, jedenfalls keineswegs in einem Zug, wie ich das erwartet hätte, beide Whiskygläser leerte, bot sich mir Gelegenheit, ihn näher zu betrachten.
    Sein intelligentes Gesicht und die teuren Schuhe standen im Gegensatz zu seinem etwas vernachlässigten Äußeren und erschienen mir nicht weniger rätselhaft als sein eigentümliches Verhalten: Ein Mann mittleren Alters, mit empfindsamen Zügen, fahrigen Bewegungen und unsicherem Verhalten, ein Typ, an dem die Zeit nicht spurlos vorübergegangen war. Es schien, als habe er meine abschätzenden Blicke bemerkt, denn nach einer Weile des Schweigens wandte er sich mir wieder zu, richtete sich in seinem Sitz auf und deutete eine leichte Verbeugung an, eine Geste, die einer gewissen Komik nicht entbehrte, und mit ausgesuchter Höflichkeit sagte er: »Mein Name ist Gropius, Professor Gregor, aber das ist vorbei, verzeihen Sie.« Er beugte sich vor und steckte das Manuskript in eine Aktentasche aus braunem Leder, die unter dem Sitz stand.
    Um der Konvention Genüge zu tun, nannte ich ebenfalls meinen Namen, und aus reiner Neugierde fragte ich zurück: »Wie darf ich das verstehen, Professor: Was ist vorbei?«
    Gropius machte eine wegwerfende Handbewegung, als wollte er sagen: Ich will nicht darüber reden. Doch weil ich ihn weiterhin erwartungsvoll ansah, meinte er schließlich: »Ich bin Chirurg – oder besser, ich war es. Und Sie? – Einen Augenblick, lassen Sie mich raten …«
    Irgendwie wurde mir die Sache unangenehm, aber da das Gespräch nun einmal in Gang gekommen und ich auf meinem Fensterplatz noch immer angeschnallt war, setzte ich mich in Positur, als wollte der andere ein Foto von mir machen, und dabei grinste ich ihm ins Gesicht.
    »Sind Sie Schriftsteller?«, fragte Gropius plötzlich.
    Ich stutzte. »Ja. Woher wissen Sie das? Haben Sie eines meiner Bücher gelesen?«
    »Ehrlich gesagt, nein. Aber ich habe Ihren Namen schon einmal gehört.« Gropius lächelte. »Und was führt Sie nach Rom? Ein neuer Roman?« Der Mann, der eben noch aschfahl und halb tot neben mir gesessen hatte, wurde auf einmal lebendig. Aus meiner Erfahrung wusste ich, was nun kommen würde, das, was neun von zehn Menschen sagen, die einem Schriftsteller begegnen, nämlich: »Wenn ich Ihnen mein Leben erzähle – darüber könnte man einen Roman schreiben!« Aber es kam nicht. Vielmehr stand noch immer die Frage des Professors im Raum.
    »Ich reise gar nicht nach Rom«, entgegnete ich also wahrheitsgemäß, »auf dem Flughafen wartet ein Leihwagen, mit dem fahre ich nach Tivoli.«
    »Ah, Tivoli«, sagte Gropius anerkennend.
    »Sie kennen Tivoli?«
    »Nur von Fotos. Muss wunderschön sein, Tivoli.«
    »Um diese Zeit vor allem ruhig. Ich kenne da ein kleines Hotel, ›San Pietro‹, nahe der Piazza Trento. Die Besitzerin, eine typische italienische Mama, macht die besten Spaghetti alla pescatore, und die Aussicht von der Terrasse des Hotels ist einfach überwältigend. Dort werde ich versuchen, mich meinem neuen Roman zu widmen.«
    Gropius nickte nachdenklich: »Ein schöner Beruf!«
    »Ja«, erwiderte ich, »ich wüsste keinen schöneren.«
    Eigentlich hätte ich da bereits hellhörig werden müssen, weil der Professor sich in keiner Weise für den Inhalt meines neuen Romans zu interessieren schien; aber vermutlich war er beleidigt, weil ich meinerseits mich so gar nicht für den Grund seiner Reise und seine näheren Lebensumstände interessierte, jedenfalls brach er unser Gespräch und jedes weitere Kennenlernen abrupt ab, indem er noch einmal sagte: »Sie nehmen es mir doch nicht übel, dass ich mich eben so an Sie geklammert habe!«
    »Ist schon in Ordnung!«, versuchte ich Gropius zu beschwichtigen. »Wenn es Sie beruhigt hat.«
    Aus dem Lautsprecher quäkte die Ankündigung, dass wir in wenigen Minuten auf dem ›Leonardo da Vinci‹-Flughafen landen würden, und kurze Zeit später kam das Flugzeug vor dem gläsernen Terminal zum Stehen.
    Im Flughafengebäude ging jeder von uns seiner Wege. Ich hatte das
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