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Die Akte Golgatha

Die Akte Golgatha

Titel: Die Akte Golgatha
Autoren: Philipp Vandenberg
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Gefühl, dass der kleine Vorfall Gropius ziemlich peinlich war, doch was mich betrifft, hatte ich die Angelegenheit schon am nächsten Morgen beinahe vergessen; beinahe deshalb, weil mich die Bemerkung des Professors, das sei alles vorbei, irgendwie nachdenklich gemacht hatte.
    Gleich nach dem Frühstück setzte ich mich mit einem Stapel weißen Papiers, dem Schrecken eines jeden Autors, an einen grün gestrichenen Holztisch, den mir Signora Moretti, die Besitzerin des Hotels, vorne an die Balustrade der Terrasse gerückt hatte. Von hier ging der Blick über die Dächer von Tivoli nach Westen, wo sich Rom im Herbstdunst versteckte.
    Ich kam mit meiner Arbeit, die nur unterbrochen wurde von langen Spaziergängen, gut voran. Am fünften Tag – ich saß gerade in der Mittagssonne und schrieb die letzte Seite meines Exposés – hörte ich hinter mir auf der Terrasse plötzlich Schritte, die sich zögernd näherten und schließlich stehen blieben. Ich spürte förmlich die Blicke in meinem Rücken, und um die unangenehme Situation zu beenden, wandte ich mich um.
    »Professor, Sie?« Überrascht legte ich meinen Stift zur Seite. Weit weg mit meinen Gedanken, in die Geschichte meines Romans verstrickt, machte ich wohl einen ziemlich verwirrten Eindruck auf den unerwarteten Besucher. Gropius versuchte jedenfalls, mich mit ein paar unbeholfenen Handbewegungen zu beschwichtigen, und nach einigen höflichen Redewendungen, welche nur einem Mann mit allerbesten Umgangsformen zu Eigen sind, kam er schließlich zur Sache:
    »Sie wundern sich vermutlich, warum ich Sie so einfach aufsuche«, begann er, nachdem ich ihm einen Stuhl angeboten und er in steifer Haltung Platz genommen hatte.
    Ich hob die Schultern, als sei mir die Angelegenheit eher gleichgültig, eine Reaktion, die ich schon wenig später bereute; kein Wunder, wusste ich zu diesem Zeitpunkt doch noch nicht, was auf mich zukommen sollte.
    Zum ersten Mal, seit wir uns vor ein paar Tagen im Flugzeug begegnet waren, musterte mich der Professor mit festem Blick. »Ich suche einen Mitwisser!«, sagte er leise, aber umso eindringlicher. Der Tonfall seiner Stimme verlieh den einfachen Worten etwas Geheimnisvolles.
    »Einen Mitwisser?«, fragte ich erstaunt. »Und wie kommen Sie gerade auf mich?«
    Gropius blickte sich um, als suchte er nach unerwünschten Zeugen unseres Gesprächs. Er hatte Angst, das wurde mir schnell klar, und die Antwort schien ihm nicht leicht zu fallen: »Ich weiß, wir kennen uns kaum, eigentlich kennen wir uns überhaupt nicht; aber das kann auch von Vorteil sein in Anbetracht der Situation, in der ich mich befinde.«
    »Ach?« – Ich gebe zu, im Nachhinein betrachtet muss meine Reaktion ziemlich überheblich gewirkt haben, und ich bin froh, dass ich nicht so spontan reagierte, wie ich es eigentlich vorhatte. Die geheimniskrämerischen Bemerkungen des Professors gingen mir auf die Nerven, und es lag mir auf der Zunge zu sagen: Mein lieber Professor, Sie stehlen mir meine Zeit. Ich bin hier um zu arbeiten. Guten Tag. – Aber ich sagte es nicht.
    »Ich habe lange überlegt, ob ich Sie mit meiner Geschichte belasten soll«, fuhr Gropius fort. »Aber Sie sind Schriftsteller, ein Mann mit Fantasie, und um sich das, was ich zu berichten habe, vorstellen zu können, bedarf es wirklich viel Fantasie. Dabei ist jedes Wort wahr, so unglaublich es auch klingen mag. Vielleicht werden Sie mir auch nicht glauben, vielleicht werden Sie mich für verrückt halten oder für einen Alkoholiker im fortgeschrittenen Stadium. Wenn ich ehrlich bin, bis vor einem Jahr hätte ich nicht anders reagiert.«
    Die eindringliche Rede des Professors nahm mir allen Wind aus den Segeln. Ich merkte, dass meine Neugierde plötzlich geweckt war, und mein anfängliches Misstrauen wich dem Interesse an dem, was der merkwürdige Professor zu erzählen hatte. »Wissen Sie«, hörte ich mich plötzlich sagen, »die besten Geschichten schreibt immer noch das Leben. Ich weiß, wovon ich rede. Kein Schriftsteller vermag so verrückte Geschichten zu erfinden, wie sie das Leben vorgibt. Im Übrigen gehört es zu meinen wenigen guten Eigenschaften zuhören zu können. Schließlich lebe ich von Geschichten, ehrlich gesagt, ich bin sogar süchtig danach. Also, was haben Sie zu berichten?«
    Der Professor begann umständlich sein Sakko aufzuknöpfen, eine zunächst nebensächliche Handlung, die mich nicht sonderlich interessierte, bis mit einem Mal ein Bündel Papiere unter dem Kleidungsstück
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