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Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit

Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit

Titel: Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
Autoren: Gillian Shields
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Glocke, und die Lichter gingen aus. Eine Weile wurde noch weitergeflüstert, dann bereiteten sich alle aufs Schlafen vor. Doch ich konnte keine Ruhe finden.
      Unmöglich. Unmöglich. Unmöglich.
      Celestes Ausbruch verblasste zur Bedeutungslosigkeit. Es waren nicht ihre Drohungen, die mich wachhielten, und es war auch nicht das Bild der toten Laura, die auf mich herunterstarrte. Es war vielmehr der Gedanke an den Jungen, dessen Existenz sich f?r einen kurzen Moment mit meiner ber?hrt hatte. Hatte er das Glas auf irgendeine geheimnisvolle Weise wieder repariert? Aber nein, das war l?cherlich, geradezu absurd.
      Trotzdem konnte ich nicht aufhören, an ihn zu denken. Wer war er? Wo kam er her? Während ich versuchte zu schlafen, erinnerte ich mich an seinen eindringlichen Blick, an sein Lächeln, die Schatten unter seinen Augen … ich erinnerte mich an die sanfte Berührung seiner Hand, die mir übers Gesicht gestrichen war, spürte seinen kühlen Atem auf meiner Haut. Wie sehr ich auch versuchte, ihn aus meinen Gedanken zu verdrängen, es war, als könnte ich seine Stimme, sein Lachen in meinem Kopf hören. Wir werden uns wiedersehen … wiedersehen … wiedersehen …
      Endlich fand ich doch etwas Schlaf, wenn auch keine Ruhe. Ich hatte schreckliche fiebrige Träume; im letzten erhob sich das schreckliche graue Meer über den Moors und löschte Wyldcliffe mit einer einzigen mächtigen Welle aus.
      Ich wachte auf und schoss keuchend und schwitzend hoch. Einen Moment lang kämpfte ich darum zu erkennen, wo ich war. Natürlich. Die Schule. Der Schlafsaal. Die vier anderen Mädchen schliefen ganz in meiner Nähe. Ich schob den weißen Vorhang zurück, um mehr Luft zu bekommen, dann musste ich mir alle Mühe geben, um nicht laut aufzuschreien. Aus dem Augenwinkel hatte ich ein Mädchen mit langen, roten Haaren und einem blassen, angstvollen Gesicht gesehen. Ich wirbelte herum, um sie genauer anzusehen, dann sank ich zitternd zurück aufs Kopfkissen. Wie dumm ich doch war! Es war nur mein eigenes, unirdisches Spiegelbild in einem langen Spiegel gewesen, der an der gegen?berliegenden Wand befestigt war. Ich hielt die Augen fest geschlossen, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken.
      Ein Gefühl überkam mich wie aufsteigender Nebel, dass ich beobachtet wurde. Noch jemand war hier im Zimmer, jemand außer uns fünf, da war ich ganz sicher. Ich lauschte angestrengt und meinte, ein sanftes Echo zu hören, als würde jemand ein Schlaflied singen, wenn auch vor langer Zeit und aus weiter Ferne. Ich hörte schwache Schritte, ein Husten und Buchseiten, die umgeblättert wurden. Da war jemand, verborgen von den tiefen Schatten.
      Noch etwas, das unmöglich war. Ich versuchte, es abzuschütteln. Ich war nur nervös und unsicher, weil ich mich an einem seltsamen Ort befand. Vermutlich war es jemand im Schlafsaal nebenan oder im Korridor eine Etage tiefer. Es war normal, dass sich die Geräusche in einem so großen alten Haus wie diesem verzerrten; das war alles.
      In dieser ersten Nacht fiel mir nichts Besseres ein, als alles auf meine Einbildung zu schieben. In dieser ersten Nacht wusste ich nicht, wer mich beobachtete. Ich wusste nicht, dass ihr Leben mit meinem verbunden war: meine Wächterin, meine Schwester, mein anderes Selbst. Unmöglich konnte ich ahnen, dass ich sie noch kennen lernen würde, dass ich ihre Geheimnisse erfahren, ja, dass ich sogar die Seiten ihres Tagebuchs lesen würde.
      Die ganze Nacht lag ich wach, bis die blasse Sonne sich erhob wie ein Geist aus seinem Grab.
     

 Vier
 
 
      
      Das Tagebuch von Lady Agnes,
 13. September 1882
     
       
 
      Es gibt eine Neuigkeit: Der teure S. ist endlich wieder zurück, nachdem er monatelang mit seinem Lehrer Mr. Philips im Ausland herumgereist ist. Wir hatten nicht erwartet, ihn noch vor Weihnachten wiederzusehen, aber er hat gestern Nacht die Hall erreicht und ist heute Morgen mit der Kutsche seines Vaters hierhergefahren. Was für eine wunderbare Überraschung in dieser alltäglichen Routine! Ich habe das Gefühl, als hätte mich das Leben an den Schultern gepackt und ordentlich geschüttelt, so dass ich jetzt zu jeder Herausforderung bereit bin.
      Es tat so gut, meinen Freund aus alten Kinderzeiten wiederzusehen! Zuerst war ich ja etwas schüchtern. Er ist erstaunlich groß und hübsch geworden, und als er Geschichten von Paris und Konstantinopel und Wien erzählte, kam ich mir vor wie ein kleines Kind – ich, die ich bisher noch
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