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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt
Autoren: Neal Stephenson
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Netz, um die Saat zu entwickeln.«
    Einen halben Kilometer vom Ufer entfernt, fingen die Tunnel an. Manche mußten seit vielen Jahren hier sein, denn sie waren rauh wie Baumrinde und mit Muscheln und Algen übersät. Aber man sah deutlich, daß sie sich in den letzten Tagen gegabelt und organisch geteilt hatten wie Wurzeln, die nach Feuchtigkeit suchten; saubere neue Röhren wuchsen aus den verkrusteten und erstreckten sich aufwärts zur Fluchtlinie, wo sie sich immer und immer wieder teilten, bis den Flüchtlingen zahlreiche Öffnungen zur Verfügung standen. Die Schößlinge mündeten in Lippen, welche die Flüchtenden packten und einsaugten wie Elefantenrüssel, um den Geretteten mit einem Minimum an Meerwasser hereinzuschaffen. An den Tunnelwänden befanden sich Mediatrons, die die Flüchtlinge ermahnten, sich sofort in die Tiefe zu begeben; es schien immer so zu sein, als würde sie gleich hinter der nächsten Biegung ein warmes, trockenes, gut erleuchtetes Plätzchen erwarten. Aber das Licht bewegte sich mit den Passanten weiter, so daß sie gleichsam peristaltisch in die Tunnel hineingezogen wurden. Die Flüchtlinge kamen in den Haupttunnel, den alten und verkrusteten, und gingen in dichter Schar weiter, bis sie in eine gewaltige Höhle tief unter der Meeresoberfläche gelangten. Dort warteten Essen und frisches Wasser auf sie, und sie aßen und tranken heißhungrig.
    Zwei Leute aßen und tranken nur von den Rationen, die sie mitgebracht hatten; das waren Nell und Carl.
    Als sie die Nanositen in Nells Fleisch entdeckt hatten, die sie zu einem Teil der Trommler machten, war Nell die ganze Nacht wach geblieben und hatte einen Antinanositen entwickelt, der die Mechanismen der Trommler aufspüren und vernichten konnte. Sie und Carl hatten sich den besagten Nanositen ins Blut gespritzt, so daß Nell nun vom Einfluß der Trommler befreit war und beide es bleiben würden. Dennoch forderten sie ihr Glück nicht heraus, indem sie die Speisen und Getränke der Trommler zu sich nahmen, und das war gut so, denn nach ihrer Mahlzeit wurden die Flüchtlinge müde, legten sich auf den Boden und schliefen, während Dampf von ihrer nackten Haut aufstieg, und es dauerte nicht lange, da wurden die Lichtpünktchen sichtbar wie Sterne, wenn die Sonne untergegangen ist. Nach zwei Stunden waren die Sterne zu einer ununterbrochenen Oberfläche flackernden Lichts verschmolzen, das so hell war, daß man lesen konnte, als würde der Vollmond auf eine Gruppe schlummernder Nachtschwärmer auf einer Wiese herabscheinen. Die Flüchtlinge, die nun zu Trommlern geworden waren, schliefen und träumten alle denselben Traum, und die abstrakten Lichter, die über die Mediatronwände der Höhle flackerten, verschmolzen und entwickelten sich zu düsteren Erinnerungen aus dem tiefsten Unterbewußtsein der Träumer. Nell sah Episoden aus ihrem eigenen Leben, die längst in den Text der Fibel Eingang gefunden hatten, ihr nun aber noch einmal in einer rohen und furchteinflößenden Form gezeigt wurden. Sie machte die Augen zu; aber die Wände gaben auch Geräusche von sich, denen sie nicht entkommen konnte.
    Carl Hollywood überwachte die Signale, die durch die Tunnelwände übermittelt wurden, entzog sich dem emotionalen Gehalt der Bilder aber, indem er sie auf Binärkodes reduzierte und versuchte, ihre internen Kodes und Protokolle zu entschlüsseln.
    »Wir müssen gehen«, sagte Nell schließlich, worauf Carl aufstand und ihr durch einen willkürlich gewählten Ausgang folgte. Der Tunnel verzweigte sich immer wieder, und Nell wählte die Abzweigungen intuitiv. Manchmal weiteten sich die Tunnel zu großen, leuchtenden Höhlen, wo leuchtende Trommler schliefen oder fickten oder einfach nur auf die Wände einschlugen. Diese Höhlen verfügten stets über zahlreiche Ausgänge, die sich verzweigten und zu anderen Höhlen führten - ein so weitläufiges und komplexes Netz von Tunneln, daß es schien, als würde es den gesamten Ozean ausfüllen wie Nervenzellen, deren Dendriten sich verbanden und verästelten, bis sie das gesamte Volumen des Schädels ausfüllten.
    Seit sie die Höhle verlassen hatten, wo die Flüchtlinge schlummerten, nahmen sie unterschwellig ein leises Trommeln wahr. Nell hatte zuerst gedacht, daß submarine Strömungen gegen die Tunnelwände brandeten, aber als es immer lauter wurde, ging ihr auf, daß es sich um die Trommler handelte, die sich unterhielten, in einer zentralen Höhle beratschlagten und Botschaften über ihr Netz
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