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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt
Autoren: Neal Stephenson
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eine provisorische Brücke zwischen ihrer Insel und Pudong zu errichten. Es wäre einfach gewesen, die Lücke mit einer Trasse oder einer Schwebebrücke zu schließen, aber die Himmlischen verfügten inzwischen über die Technologie, derartige Konstruktionen schneller zu sprengen, als sie gebaut werden konnten. Am zweiten Tag der Belagerung veranlaßten sie, daß die Insel ein schmales Pseudopodium aus mit dem Meeresgrund verwurzelten SmartKorallen nach Pudong ausstreckte. Aber es gab einfache und bestimmte Grenzen für die Geschwindigkeit, mit denen so etwas gezüchtet werden konnte, und während immer mehr Flüchtlinge sich auf den engen Hohlwegen der Innenstadt von Pudong drängten und immer schauderhaftere Nachrichten vom Vorrücken der Himmlischen Armee brachten, sah jeder ein, daß die Landbrücke nicht rechtzeitig fertiggestellt werden konnte.
    Die Lager der verschiedenen Stämme wurden immer weiter nach Norden und Osten verlegt, während sie durch den Ansturm der Flüchtlinge und die Angst vor den Himmlischen gezwungen wurden, die Innenstadt zu räumen, bis die verschiedenen Gruppen mehrere Meilen Küste bzw. Flußufer belegt hatten. Das südliche Ende der Küste wurde von den New Atlantern besetzt, die sich darauf konzentrierten, alle Invasionsversuche vom Meer her abzuwehren. Von dort aus erstreckte sich die Kette der Lager nach Norden, folgte der Krümmung des Ozeans und dann am Ufer des Jangtse entlang nach Osten bis zum gegenüberliegenden Ende, das Nippon besetzt hatte, um Angriffe über die Flußniederungen zu verhindern. Das gesamte Zentrum der Linie wurde von Prinzessin Nells Stamm/ Armee von zwölfjährigen Mädchen, die ihre zugespitzten Stöcke allmählich gegen fortschrittlichere, in tragbaren Sourcen aus dem Fundus der Nipponesen und New Atlanter hergestellte Waffen eintauschten, vor direkten Frontalangriffen geschützt.
    Carl Hollywood war zum Militärdienst herangezogen worden, sobald er sich bei den Behörden von New Atlantis gemeldet hatte, und trotz aller Versuche, seine Vorgesetzten davon zu überzeugen, daß er nützlicher sein könnte, wenn er seinen eigenen Forschungen nachging. Doch dann traf eine Nachricht für ihn aus den höchsten Kreisen der Regierung Ihrer Majestät ein. Im ersten Teil wurde er für seine »Heldentat« gelobt, daß er den verstorbenen Oberst Spence aus Shanghai herausgeholt hatte, und man deutete an, daß die Ritterschaft ihn erwartete, sollte er lebend aus Pudong herauskommen. Im zweiten Teil wurde er Ihrer Königlichen Hoheit, Prinzessin Nell, als eine Art Sonderbotschafter zugeteilt.
    Als Carl die Nachricht las, registrierte er zunächst fassungslos, daß seine Regentin Nell einen ebenbürtigen Status einräumte; aber nach gründlichem Nachdenken sah er ein, daß es ebenso gerecht wie pragmatisch war. Auf den Straßen von Pudong hatte er genug von der Mäusearmee gesehen (wie sie sich aus einem unerfindlichen Grund selbst nannten), um einzusehen, daß sie tatsächlich eine neue ethnische Gruppe bildeten und Nell ihre unangefochtene Herrscherin war. Victorias Hochachtung vor der neuen Regentin war nicht unbegründet. Und daß die Mäusearmee zugleich mithalf, viele New Atlanter davor zu bewahren, vom Himmlischen Königreich als Geiseln genommen zu werden, wenn nicht vor einem schlimmeren Schicksal, machte die Anerkennung zu einem ungeheuer pragmatischen Schritt.
    Carl Hollywood, der erst seit wenigen Monaten diesem Stamm angehörte, fiel die Aufgabe zu, Prinzessin Nell die Grüße und Glückwünsche Ihrer Majestät zu überbringen, einem Mädchen, von dem Miranda ihm viel erzählt, das er aber nie persönlich kennengelernt hatte und kaum einschätzen konnte. Man brauchte nicht allzu scharf nachzudenken, um die Hand von Lord Alexander Chung-Sik Finkle-McGraw hinter alledem zu erkennen.
    Nachdem er seiner normalen Verantwortung entbunden war, ging er am dritten Tag der Belagerung an der Flutlinie entlang vom New-Atlantis-Lager aus nach Norden. Alle paar Meter kam er an eine Stammesgrenze und zeigte ein Visum vor, das ihm unter den Rahmenbedingungen des Gemeinschaftlichen Ökonomischen Protokolls freien Durchgang sichern sollte. Manche Stammeszonen waren nur einen oder zwei Meter breit, aber ihre Bewohner hüteten den Zugang zum Meer eifersüchtig, saßen die ganze Nacht am Strand und sahen in die Brandung, als warteten sie auf eine nicht näher spezifizierte Form von Rettung. Carl Hollywood durchquerte die Lager von Ashantis, Kurden, Armeniern, Navajos,
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