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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt
Autoren: Neal Stephenson
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Tibetanern, Senderos, Mormonen, Jesuiten, Lappen, Paschtanehs, Tutsis und der Ersten Verzettelten Republik nebst ihrer zahllosen Abkömmlinge, Heartlandern, Iren und einer oder zwei hiesigen CryptNet-Zellen, die jetzt ans Tageslicht gespült worden waren. Er entdeckte synthetische Phylen, von denen er noch nie gehört hatte, doch das überraschte ihn nicht.
    Schließlich kam er zu einem großzügigen Strandabschnitt, der von zwölfjährigen Chinesenmädchen bewacht wurde. An dieser Stelle präsentierte er seine Akkreditierungsurkunde von Ihrer Majestät Queen Victoria II., die ungeheuer eindrucksvoll aussah, so daß sich viele der Mädchen um ihn scharten und sie bestaunten. Carl Hollywood registrierte überrascht, daß sie alle perfekt Englisch mit einem ziemlich hochviktorianischen Akzent sprachen. Sie schienen dieser Sprache den Vorzug zu geben, wenn sie abstrakte Themen besprachen, doch wenn es um praktische Belange ging, griffen sie auf Mandarin zurück.
    Er wurde hinter die Reihen ins Lager der Mäusearmee geführt, bei dem es sich zum größten Teil um ein Freilufthospiz für zerlumpte, kranke und verletzte Mitglieder anderer Phylen handelte. Wer nicht flach auf dem Rücken lag und von Mäuseschwestern versorgt wurde, saß im Sand, die Arme um die Knie geschlungen, und starrte über das Meer in Richtung New Chusan. Das Meer war hier vergleichsweise flach, daher konnte man einen guten Steinwurf weit in die Wellen waten.
    Jemand war hinausgewatet: eine junge Frau, deren langes Haar über die Schultern fiel und um ihre Taille herum im Wasser schwebte. Sie stand mit dem Rücken zum Ufer, hielt ein Buch in der Hand und bewegte sich lange Zeit nicht.
    »Was macht sie dort draußen?« wandte sich Carl Hollywood an seine Mäusearmeebegleiterin, die fünf Sterne an ihrem Revers hatte. In Pudong hatte er die Bedeutung ihrer Abzeichen erkannt: Fünf Sterne bedeuteten, daß sie die Befehlsgewalt über 4 5 Personen hatte, also 1024. Also eine Regimentskommandeurin.
    »Sie ruft ihre Mutter.«
    »Ihre Mutter?«
    »Ihre Mutter ist unter den Wellen«, sagte die Frau. »Sie ist eine Königin.«
    »Königin wovon?«
    »Königin der Trommler, die unter dem Meer leben.«
    Und da wußte Carl Hollywood, daß Prinzessin Nell ebenfalls nach Miranda suchte. Er warf seinen langen Mantel in den Sand und watete, von der Offizierin begleitet, in den Pazifik hinaus, und verweilte in sicherer Entfernung, um seinen Respekt zu beweisen, aber auch, weil Nell ein Schwert an der Taille trug. Sie hatte das Gesicht wie eine Lupe über die Seiten gebeugt, und er rechnete halb damit, daß die Seiten sich unter ihrem Blick zusammenrollen und zu rauchen anfangen würden.
    Nach einiger Zeit sah sie von dem Buch auf. Die Offizierin sprach sie mit leiser Stimme an. Carl Hollywood wußte nicht, was die Etikette vorschrieb, wenn man bis zu den Oberschenkeln im Ostchinesischen Meer stand, daher trat er vor, verbeugte sich so tief, wie es die Umstände erlaubten, und reichte Prinzessin Nell die Schriftrolle von Queen Victoria II.
    Sie nahm sie wortlos und las sie von oben nach unten, dann las sie sie erneut. Sie gab sie der Offizierin, die sie vorsichtig zusammenrollte. Prinzessin Nell sah eine Zeitlang über das Meer hinaus, dann drehte sie sich zu Carl um und sagte leise: »Ich akzeptiere Ihre Akkreditierung und möchte Sie bitten, daß Sie Ihrer Majestät meinen herzlichen Dank ausrichten, sowie eine Entschuldigung, daß die Umstände mir nicht gestatten, eine förmlichere Antwort auf ihren gütigen Brief zu verfassen, was unter anderen Umständen selbstverständlich höchste Priorität für mich haben würde.«
    »Das werde ich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit tun, Eure Majestät«, sagte Carl Hollywood. Als Prinzessin Nell diese Worte hörte, sah sie ein wenig unsicher drein und verlagerte ihre Haltung, was freilich auch an der Strömung liegen konnte. Carl wurde klar, daß sie noch niemals zuvor in dieser Weise angesprochen worden war; bis Victoria sie anerkannte, war sie sich über ihre Position überhaupt nicht im klaren gewesen.
    »Die Frau, die Ihr sucht, heißt Miranda«, sagte er.
    Alle Gedanken an Kronen, Königinnen und Armeen schienen aus Nells Verstand zu verschwinden, und sie war wieder nur eine junge Dame, die... wonach suchte? Ihrer Mutter? Ihrer Lehrerin? Ihrer Freundin? Carl Hollywood sprach Nell mit sanfter, leiser Stimme an, gerade laut genug, um sich über das Rauschen der Wellen hinweg verständlich zu machen. Er erzählte
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