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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt
Autoren: Neal Stephenson
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ihr von Miranda, von dem Buch und von den alten Geschichten über die Taten von Prinzessin Nell, die er am Rande mitbekommen hatte, als er, wie es der Zufall wollte, vor vielen Jahren im Parnasse Mirandas Aufzeichnungen durchgesehen hatte.
    Im Lauf der nächsten zwei Tage wurden viele Flüchtlinge am Strand mit Luftschiffen evakuiert, aber einige wurden auf spektakuläre Weise vernichtet, bevor sie außer Reichweite der Waffen des Himmlischen Königreichs gelangt waren. Drei Viertel der Mäusearmee traten die Flucht an, indem sich die Mädchen nackt auszogen, in Scharen ins Meer wateten und mit untergehakten Armen ein flexibles und unsinkbares Floß bildeten, das übers Meer nach New Chusan paddeln konnte. Gerüchte breiteten sich rasch an dem Küstenstreifen aus; die Stammesgrenzen schienen dem ganzen Prozeß eher hinderlich als dienlich zu sein, da sprachliche und kulturelle Barrieren stets neue Variationen desselben Gerüchts hervorbrachten, die auf die jeweiligen Ängste und Vorurteile zugeschnitten waren. Das populärste Gerücht besagte, daß die Himmlischen allen freies Geleit zusicherten und die Angriffe von außer Kontrolle geratenen intelligenten Minen durchgeführt worden seien, oder, schlimmstenfalls, von ein paar fanatischen Befehlshabern, die sich Befehlen widersetzten und in Kürze zur Rechenschaft gezogen werden würden. Es kursierte ein zweites, befremdlicheres Gerücht, das einige Leute veranlaßte, am Ufer zu bleiben und sich nicht den Evakuierungsschiffen anzuvertrauen: Eine junge Frau mit einem Buch und einem Schwert schuf magische Tunnel in der Tiefe, durch die sie sich alle in Sicherheit bringen konnten. Solche Vorstellungen stießen bei den rationaleren Kulturen logischerweise auf Skepsis, aber am Morgen des sechsten Tages der Belagerung spülte die Flut ein seltsames Omen an Land: einen Laich durchscheinender Eier, die so groß wie Strandbälle waren. Wenn ihre feinen Hüllen zerrissen wurden, konnte man feststellen, daß sie Rückentornister mit einem fraktalen Muster feiner Lüftungsschlitze enthielten. Aus der Oberseite entsprang ein stabiler Schlauch, der in einer Gesichtsmaske mündete. Unter den gegebenen Umständen fiel es nicht schwer, den Zweck dieser Gegenstände zu erraten. Die Leute schnallten sich die Tornister auf den Rücken, setzten sich die Masken auf und sprangen ins Wasser. Die Tornister wirkten wie die Kiemen von Fischen und sorgten für eine konstante Sauerstoffzufuhr.
    Die Kiementornister trugen keine Stammeskennung; sie wurden einfach mit jeder Flut zu Tausenden an den Strand gespült, als würde das Meer sie auf organische Weise ausstoßen. Die Atlanter, Nipponesen und andere gingen jeweils davon aus, daß sie von ihren eigenen Stämmen kamen. Aber viele sahen einen Zusammenhang zwischen ihnen und den Gerüchten über Prinzessin Nell und die Unterwassertunnel. Diese Leute wanderten zum Zentrum der Küste von Pudong, wo sich die winzigen, schwachen und absonderlichen Stämme aufhielten. Diese Konzentration der Verteidigungslinien wurde unausweichlich, da die Zahl der Verteidiger durch die Evakuierung ständig schrumpfte. Die Grenzen zwischen den Stämmen wurden instabil und fielen schließlich ganz, und am fünften Tag der Belagerung herrschte ein kunterbuntes Durcheinander von Barbaren, die sich an der äußersten Spitze der Halbinsel Pudong befanden, mehrere zehntausend Menschen zusammengedrängt auf einem Areal, das nicht größer war als wenige städtische Blocks. Danach kamen die chinesischen Flüchtlinge, überwiegend Leute, die sich stark mit der Küstenrepublik identifizierten und wußten, daß sie niemals im Himmlischen Königreich untertauchen konnten. Diese wagten nicht, ins Lager der Flüchtlinge einzudringen, die noch immer mit wirkungsvollen Waffen ausgerüstet waren, aber indem sie zentimeterweise vorrückten, ohne wieder zurückzuweichen, verschoben sie die Grenzlinie unbekümmert, bis viele Barbaren knietief im Meer standen.
    Das Gerücht machte die Runde, daß Prinzessin Nell einen Zauberer und Ratgeber namens Carl hatte, der eines Tages aus heiterem Himmel aufgetaucht war und fast alles wußte, was Prinzessin Nell auch wußte, und noch manches obendrein. Dieser Mann, so wollten die Gerüchte wissen, war im Besitz einiger magischer Schlüssel, die ihm und der Prinzessin die Gabe verliehen, mit den Trommlern zu sprechen, die unter den Wellen lebten.
    Am siebten Tag watete Prinzessin Nell bei Tagesanbruch nackt ins Meer, verschwand unter Wellen, die der
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