Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
Furchteinflößenderes trieb immer mehr Menschen von der Seite auf sie zu, und als Carl versuchte zu erkennen, worum es sich dabei handelte, stellte er fest, daß sich inzwischen zahlreiche Chinesen zwischen ihn und die Zulus gedrängt hatten. Ihre Mienen waren schmerz- und angstverzerrt; sie griffen nicht an, sie wurden angegriffen.
    Plötzlich waren alle Chinesen verschwunden. Carl und Oberst Spence befanden sich inmitten einer Gruppe von rund einem Dutzend Buren - nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder und Greise, ein ganzes Lager auf der Flucht. Alle strömten instinktiv nach vorne und absorbierten die Vorhut von Carls Gruppe. Sie waren noch einen Block vom Ufer entfernt.
    Der Anführer der Buren, ein gedrungener Mann um die Fünfzig, identifizierte Carl Hollywood irgendwie als den Anführer, und sie vereinigten ihre verbliebenen Kräfte rasch für einen gemeinsamen Vorstoß zum Ufer. Von der ganzen Unterhaltung erinnerte sich Carl nur noch daran, wie der Mann sagte: »Gut. Sie haben Zulus.« Die Buren der Vorhut trugen automatische Waffen, die winzige, hochexplosive Nanogeschosse abfeuerten, die bei unterschiedslosem Einsatz die ganze Menschenmenge in Hackfleisch hätten verwandeln können; aber sie feuerten die Waffen selbst dann in kontrollierten Salven ab, wenn angreifende Fäuste auf Schwertlänge herankamen. Von Zeit zu Zeit hob einer den Kopf und überschüttete die Fensterreihen mit einer Salve automatischen Feuers; dann fielen Heckenschützen wie Strohpuppen aus der Dunkelheit auf die Straße herab. Die Buren mußten eine Art Nachtsichtgerät haben. Oberst Spence fühlte sich plötzlich ziemlich schwer in Carls Arm an, und Carl wurde klar, daß der Oberst bewußtlos oder so gut wie bewußtlos sein mußte. Carl schulterte das Gewehr, bückte sich und nahm Spence auf die Schulter.
    Sie schafften es bis zum Ufer und errichteten eine Verteidigungslinie. Die nächste Frage war: Gab es irgendwelche Boote? Aber dieser Teil von China stand halb unter Wasser, und es schien ebenso viele Boote wie Fahrräder zu geben. Die meisten davon hatten offenbar während des allmählichen Vorrückens der Fäuste ihren Weg flußabwärts nach Shanghai gefunden. Als sie das Ufer erreichten, fanden sie Tausende von Leuten mit Booten, die nur darauf warteten, ein Geschäft zu machen. Aber der Anführer der Buren wies zu Recht darauf hin, daß es Selbstmord wäre, die Gruppe auf mehrere winzige, nicht motorisierte Boote zu verteilen; die Fäuste zahlten hohe Belohnungen für die Köpfe von Barbaren. Es wäre viel sicherer, darauf zu warten, daß eines der größeren Boote draußen auf dem Kanal ans Ufer kam, wo sie mit dem Kapitän handelseinig werden und als ganze Gruppe an Bord gehen konnten.
    Mehrere Kapitäne von Booten in der Größenordnung von Motorjachten bis zu Fischkuttern bemühten sich bereits, die ersten zu sein, die ein lukratives Geschäft machen konnten, und drängten sich rücksichtslos durch das Getümmel der kleineren Boote, die am Ufer dümpelten.
    Ein einförmiger Rhythmus vibrierte in den Lungen der Flüchtigen. Zuerst hörte er sich wie Trommeln an, aber als der Lärm näher kam, konnte man Hunderttausende Stimmen heraushören, die im Chor
»Sha! Sha!
Sha! Sha!«
sangen. Die Naniing Road erbrach einen gewaltigen Schwall Menschen, die wie Abgase aus einem Auspuff auf den Bund gestoßen wurden. Sie zerstreuten sich sofort am ganzen Ufer entlang.
    Eine Hoplitenarmee – Berufssoldaten in Kampfanzügen – marschierte auf den Fluß zu, eine große Zahl Seite an Seite, über die gesamte Breite der Nanjing Road hinweg. Das waren keine Fäuste, es handelte sich um die reguläre Armee, die Vorhut des Himmlischen Königreichs, und Carl Hollywood stellte zu seinem Schrecken fest, daß zwischen ihnen und ihrem dreißigjährigen Marsch zum Ufer des Huang Pu jetzt nur noch Carl Hollywood, sein .44er und eine Handvoll unzulänglich bewaffneter Zivilisten standen.
    Eine hübsche Jacht hatte sich dem Ufer bis auf wenige Meter genähert. Der verbliebene Israeli, der fließend Mandarin sprach, hatte bereits Verhandlungen mit dem Kapitän aufgenommen.
    Eine Burenfrau, eine drahtige Großmutter mit einem weißen Dutt auf dem Kopf und einer schwarzen Haube, die sie züchtig darübergezogen hatte, unterhielt sich kurz mit dem Anführer der Buren. Er nickte einmal, dann nahm er ihr Gesicht zwischen beide Hände und küßte sie.
    Sie drehte dem Fluß den Rücken zu und marschierte schnurstracks auf die vorrückende Armee
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher