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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt
Autoren: Neal Stephenson
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gleich neben dem Bett stehenzulassen. Er drehte sie um und tastete vorsichtig nach Glasscherben, bevor er sie anzog. Erst als er sich vollständig angekleidet und seine sämtlichen Habseligkeiten zusammengesucht hatte, sah er zum Fenster hinaus.
    Sein Hotel lag nicht weit vom Ufer des Huang Pu entfernt. Als er über den Fluß sah, stellte er fest, daß weite Teile von Pudong sich schwarz vor dem tiefen Blau des Himmels kurz vor der Dämmerung abzeichneten. Ein paar Gebäude, die mit dem internen Feeder verbunden waren, hatten noch Strom. Auf dieser Seite des Flusses war die Situation nicht so einfach; Shanghai hatte, im Gegensatz zu Pudong, viele Kriege erlebt und war daher robust gebaut: In der Stadt gab es massenhaft geheime Energiequellen. Alte Dieselgeneratoren, private Sourcen und Feeder, Wassertanks und Zisternen. Im Schatten der Hongkong & Shanghai Banking Corporation züchteten manche Leute noch Hühner. Shanghai würde den Angriff der Fäuste viel besser überstehen als Pudong.
    Aber als Weißer überstand ihn Carl Hollywood möglicherweise ganz und gar nicht gut. Es wäre besser, mit dem Rest der Äußeren Stämme auf der anderen Seite des Flusses zu sein, in Pudong.
    Etwa drei Blocks lagen zwischen hier und dem Ufer; aber da es sich um Shanghai handelte, boten diese drei Blocks Komplikationen, die in andern Städten für drei Meilen ausgereicht haben würden. Das Hauptproblem würden die Fäuste sein; er konnte bereits ihre Rufe
»Sha! Sha!«
hören, die von den Straßen heraufbrodelten, und als er mit einer Taschenlampe zwischen den Stäben seines Balkongeländers hindurchleuchtete, konnte er viele Fäuste sehen, die, durch die Zerstörung der ausländischen Feeder ermutigt, vor aller Welt mit ihren scharlachroten Tüchern und Stirnbändern herumliefen.
    Wenn er nicht einen Meter fünfundneunzig groß und blauäugig gewesen wäre, hätte er versucht, sich als Chinese zu verkleiden und zum Ufer zu schleichen, und das hätte wahrscheinlich nicht geklappt. Er ging zum Schrank und holte seinen langen Mantel heraus, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Der Mantel war kugelsicher und gegen die meisten Nanotechprojektile gefeit.
    Ein längliches Gepäckstück lag ungeöffnet auf der Ablage im Schrank. Als er von den Unruhen gehört hatte, hatte er als Vorsichtsmaßnahme diese Relikte mitgebracht: ein graviertes Repetiergewehr Kaliber .44 mit Kimme und Korn und, als eine Art letzter Rettung, einen Colt-Revolver. Es waren unnötig prächtige Waffen, aber er hatte seine sämtlichen Schußwaffen, die keinen historischen oder künstlerischen Wert besaßen, schon vor langer Zeit abgestoßen.
    Zwei Schüsse ertönten innerhalb des Gebäudes, ganz in seiner Nähe. Augenblicke später klopfte jemand an die Tür. Carl zog den Mantel um sich, falls jemand beschließen sollte, durch die Tür zu schießen, und sah durch das Guckloch. Zu seiner Überraschung sah er einen weißhaarigen Anglo-Gentleman mit gezwirbeltem Schnurrbart, der eine halbautomatische Pistole in der Hand hielt. Carl hatte ihn gestern in der Hotelbar kennengelernt; er war hier, um einige Angelegenheiten zu regeln, bevor Shanghai endgültig fiel.
    Er machte die Tür auf. Die beiden Männer sahen einander kurz an. »Man könnte denken, wir wären zu einem Kongreß von Sammlern antiker Waffen gekommen«, sagte der Gentleman unter seinem Schnurrbart hervor. »Es tut mir schrecklich leid, daß ich Sie gestört habe, aber ich dachte, Sie wären vielleicht daran interessiert zu erfahren, daß sich Fäuste im Hotel aufhalten.« Er winkte mit seiner Waffe den Flur entlang. Carl streckte den Kopf zur Tür hinaus und sah einen toten Pagen, der nach wie vor ein langes Messer umklammert hielt, vor einer offenen Tür liegen.
    »Wie es sich trifft, war ich bereits aufgestanden«, sagte Carl Hollywood, »und habe überlegt, ob ich einen Spaziergang zum Ufer machen sollte. Möchten Sie mich begleiten?«
    »Mit Vergnügen. Oberst Spence, Vereinigte Königliche Streitkräfte, im Ruhestand.«
    »Carl Hollywood.«
    Auf dem Weg nach unten tötete Spence zwei weitere Hotelangestellte, die er, mit etwas fragwürdigen Gründen, als Fäuste identifizierte. Carl hatte in beiden Fällen seine Zweifel, bis Spence ihre Hemden aufriß und ihm die scharlachroten Tücher darunter zeigte. »Sehen Sie, in Wirklichkeit sind sie gar keine Fäuste«, erklärte Spence jovial. »Aber wenn die Fäuste wirklich kommen, gilt dieser Unsinn plötzlich als ungeheuer modisch.«
    Nachdem sie einige
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