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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm
Autoren: Iny Lorentz
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Trettin bringen«, erklärte er, obwohl es ihn nicht gerade danach drängte, dem ehemaligen Gutsherrn zu begegnen. Dieser nahm im Gespräch mit ihm kein Blatt vor den Mund und warf ihm dieselben rüden Flüche an den Kopf wie einem Stallknecht.
    Kord überlegte derweil, ob er seinen alten Herrn aufsuchen und ihm von dem Unglück berichten sollte. Doch schon nach wenigen Schritten blieb er stehen. Dieser Aufgabe fühlte er sich wahrlich nicht gewachsen, und er sagte sich, dass der Pastor als studierter Mann sicher bessere Worte finden würde als er.

IV.
     
    Die Nacht verbrachte Lore in einem Gästezimmer des Pastorenhauses, doch sie hätte am nächsten Morgen nicht zu sagen vermocht, ob sie nun geschlafen hatte oder nicht. Von der Frau des Pastors hatte sie ein viel zu weites Nachthemd erhalten, das wie ein Sack an ihr herabhing und am Boden schleifte. Am Morgen brachte ihr das Dienstmädchen Waschwasser und ihr ausgebürstetes Kleid, dessen Riss mit ein paar groben Stichen zusammengeheftet worden war.
    »Du solltest dich beeilen, denn der Herr Pastor will gleich mit dir zu deinem Großvater fahren. Das Frühstück steht bereits auf dem Tisch«, drängte die junge Frau.
    Frühstück war etwas, das für Lore zu einem anderen Leben zu gehören schien. Ihr Magen lag wie ein harter Klumpen in ihrem Bauch, und sie verspürte weder Hunger noch Durst. Vor ihren Augen sah sie nur die Flammenhölle, die einst ihr Heim gewesen war, und sie fragte sich wieder und wieder, wieso es ihren Eltern und Geschwistern nicht gelungen war, vor dem Feuer ins Freie zu fliehen.
    Dabei kam ihr der Ausspruch der alten Miene in den Sinn, der neue Herr auf Trettin hätte ihre Familie vor dem Schlimmsten bewahren können. Warum war er einfach vorbeigefahren? Dasschien unbegreiflich. Auch wenn er mit ihrem Großvater verfeindet war, hätte die Menschlichkeit es doch verlangt, anzuhalten und die Bewohner vor dem Feuer zu warnen. Vielleicht, sagte sie sich, hatte Ottokar nach seinem Besuch bei ihrem Großvater vor Ärger nicht auf seine Umgebung geachtet und daher das brennende Haus übersehen. Doch so richtig mochte sie daran nicht glauben. Zumindest Florin auf dem Kutschbock hätte das Feuer bemerken und seinen Herrn darauf aufmerksam machen müssen. Also war ihr Verwandter absichtlich weitergefahren.
    »Lore! Trödle nicht, sondern komm endlich zu Tisch«, hörte sie die Stimme der Pastorin ins Zimmer schallen, als sei sie kein Gast, sondern eine faule Magd.
    Sie krümmte sich unter dem Tonfall wie unter einem Hieb, wusch sich mit dem kalten Wasser rasch Hände und Gesicht, flocht ihre aufgelösten Zöpfe neu und schlüpfte in ihr Kleid. Als sie wenig später das Speisezimmer betrat, stand der Pastor bereits an der Tür und sprach mit seinem Kutscher. Bei Lores Anblick drehte er sich herum.
    »Iss rasch etwas! Ich will gleich losfahren.«
    Lore schüttelte schaudernd den Kopf. »Ich kann nichts essen, Herr Pastor.«
    Die Pastorin, die noch am Tisch saß und dem Dienstmädchen zusah, das ihre beiden Kinder fütterte, krauste die Stirn. »Unsinn! Essen hält Leib und Seele zusammen und vertreibt den Schmerz.«
    So fett, wie du aussiehst, hast du schon viele Schmerzen vertrieben, fuhr es Lore durch den Kopf. Bereits in der Nacht hatte die Frau keinen Hehl daraus gemacht, dass sie den Brand des Lehrerhauses als ein Zeichen Gottes ansah, der die Feinde des neuen Gutsherrn mit seinem Zorn strafe. Daher war ihre Beileidsbekundung arg knapp und ohne jedes Mitgefühl ausgefallen. Lore biss sich auf die Lippen, um der Frau nicht ins Gesicht zu schreien, was sie von ihr hielt, und warf einen kurzen Blick auf das opulenteFrühstück, das aus hellem Brot, goldgelb glänzender Butter, einem großen Stück Käse und einer fettigen Leberwurst bestand, und fühlte, wie es in ihrer Kehle würgte.
    Rasch wandte sie dem Tisch den Rücken zu und sah den Pastor an. »Ich möchte zu meinem Großvater.«
    Der Pastor brummte etwas, das so klang, als wolle er sie überreden, sich doch ins Gutshaus bringen zu lassen. Aber nach einem Blick auf ihre Miene nickte er nur. »Gut. Fahren wir!«
    Er winkte ihr, ihm zu folgen, und verließ das Haus. Es war wie alle anderen im Ort mit Reet gedeckt, aber größer als das Lehrerhaus und sehr viel besser eingerichtet. Hier konnte jeder sofort erkennen, dass der Pastor an Wichtigkeit gleich nach dem Gutsherrn kam, und der Mann trat entsprechend selbstbewusst auf. Als der Kutscher den Landauer durch das Dorf lenkte, nahmen die
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