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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm
Autoren: Iny Lorentz
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tatsächlich am Lehrerhaus vorbeigekommen, hätte er selbstverständlich angehalten und die Leute herausgerufen.«
    Wolfhard von Trettin dachte an den Besuch seines Neffen, der am Vorabend bei Anbruch der Dunkelheit vom Jagdhaus weggefahrenwar. Dann warf er einen traurigen Blick auf Lore, die zu Fuß unterwegs gewesen war und das Lehrerhaus erst erreicht haben konnte, als es bereits in Flammen stand, und lachte mit einem Mal grässlich auf.
    »Du bist kein Pfarrer, sondern ein Diener dieses Teufels, der sich auf meinem Gut eingeschlichen und es mir weggenommen hat! Das Kind sagt die Wahrheit! Mein Neffe ist letzte Nacht am Haus meiner Tochter vorbeigefahren, ohne sie zu warnen, und damit ist er an ihrem Tod und dem der anderen ebenso schuld, als hätte er sie eigenhändig ermordet.«
    Der Pastor bedachte den alten Herrn mit einem missbilligenden Blick. »Jetzt mäßigen Sie sich! Es ist eine Sünde, einen geachteten Mann so zu beschuldigen.«
    Mit einem wüsten Fluch ballte Wolfhard von Trettin die Fäuste und ging auf den Pastor los. Dieser wich zurück und sprang fluchtartig in seinen Wagen.
    »Fahr los!«, herrschte er den Kutscher an. Der Mann schien den Zorn des alten Freiherrn ebenso zu fürchten wie sein Herr, denn er trieb die Pferde so stark an, dass der Wagen wie ein Ball über den unebenen Platz vor der Jagdhütte hüpfte. Gekränkt hockte der Pastor auf der gepolsterten Bank im Fond und drehte sich nicht mehr nach dem alten Herrn um. Hinter ihm erscholl noch ein zornerfüllter Fluch, der mitten im Wort erstarb und einer Stille Platz machte, die nur vom Rauschen des Windes in den Zweigen durchbrochen wurde.

V.
     
    Lore sah ihren Großvater noch ein paar Schritte hinter dem Wagen des Pastors herrennen. Plötzlich aber blieb er stehen, wandte sich erschrocken um und griff sich mit der Rechten an die Stirn. Gleichzeitig wurde sein Gesicht so dunkel wie schwerer Burgunderwein. Er versuchte, noch etwas zu sagen, brachte aber nur noch gurgelnde Laute heraus. Dann fiel er wie ein leerer Jutesack in sich zusammen und stürzte zu Boden.
    »Herr Großvater, was ist mit Euch?« Lore eilte an seine Seite und beugte sich über ihn. Voller Angst blickte sie in seine verdrehten Augen, in denen nur noch das Weiße zu sehen war, und vernahm rasselnde Atemzüge. Als der alte Herr nicht auf ihre verzweifelten Worte reagierte, rief sie laut nach dem Dienstmädchen.
    »Elsie! Komm schnell! Hilf mir! Mein Großvater ist gestürzt.«
    Einige bange Augenblicke starrte sie auf die Tür des Hauses. Doch es rührte sich nichts. Sie erinnerte sich daran, dass Elsie bei Verwandten im Dorf schlief und schon öfter zu spät zum Jagdhaus gekommen war. Doch um diese Zeit hätte sie eigentlich schon bei der Arbeit sein müssen.
    »Elsie, wo bist du?«, schrie Lore so laut, wie ihre Kehle es zuließ.
    »Was ist denn los?«, scholl es verärgert zurück. Es vergingen noch einige Minuten, die sich für Lores Gefühl schier zu Jahren dehnten, bis die dralle Magd zwischen den Bäumen auftauchte.
    Elsie biss gerade von einem Apfel ab, der vom letzten Jahr übrig geblieben war, als sie Lore neben dem Herrn von Trettin knien sah. »Ist er tot?«, fragte sie erschrocken.
    Lore schüttelte heftig den Kopf. »Nein, aber er ist nicht mehr bei Bewusstsein. Ich habe solche Angst! Hilf mir! Wir müssen ihn ins Haus tragen und dann Doktor Mütze rufen.«
    Doch anstatt näher zu kommen, wich Elsie mit bleichem Gesichtzurück. »Ich lange ihn nicht an, sonst wird er uns unter den Händen sterben.«
    Lore begriff, dass sie von der Dienstmagd keine Hilfe zu erwarten hatte, und stand auf. »Dann bleib wenigstens hier und achte auf ihn, während ich zum Arzt laufe. Wie du weißt, bin ich schneller als du.«
    Dazu war Elsie ebenfalls nicht bereit. »Bleiben Sie bei ihm, Fräulein! Ich hole den Arzt.«
    Ehe Lore etwas sagen konnte, hatte sie sich umgedreht und rannte los. Das Mädchen sah sie zwischen den Bäumen verschwinden und biss vor Schmerz die Zähne zusammen.
    Da Doktor Mütze in Heiligenbeil wohnte, das fast zwei deutsche Meilen entfernt lag, vergingen Stunden, in denen Lore neben ihrem Großvater saß und sich nicht zu rühren wagte. Sollte Gott wirklich so grausam sein, dass sie nun auch noch den letzten Menschen verlor, dem etwas an ihr lag? Hatte sie ihr Maß an Leid nicht bereits in der Nacht bis zur Neige ausschöpfen müssen? Sie weinte und wünschte sich, alles wäre nur ein schlimmer Traum, aus dem sie bald erwachen würde. Doch der
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