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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm
Autoren: Iny Lorentz
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und erkannte den alten Kord, den ehemaligen Vorarbeiter auf Gut Trettin, der von dem neuen Herrn wegen seiner Treue zu ihrem Großvater entlassen worden war. Die hoch auflodernden Flammen beleuchteten ein vor Entsetzen verzerrtes Gesicht.
    »Bete zu Gott, mein Kind! Das ist das Einzige, was du noch tun kannst. Es ist keinem von deinen Angehörigen gelungen, das Haus zu verlassen.«
    »Nein! Nein! O Gott! So grausam kannst du doch nicht sein!« Lore riss sich los und stolperte auf das brennende Gebäude zu.
    Sofort packten einige Leute sie und zerrten sie zurück.
    »Du kannst ihnen nicht mehr helfen, Kind!«, beschwor Kord sie.
    »Danke Gott, denn er hat an dir ein Wunder getan, Lore!«, sagte die Ladenbesitzerin. »Zwar nahm er dir deine Eltern und Geschwister, aber er ließ dich am Leben.«
    »Ich wollte, ich wäre tot!«, brach es aus Lore heraus.
    Die alte Miene, deren Kate dem Lehrerhaus am nächsten lag, murmelte etwas vor sich hin. Zwar verstand Kord nur ein paar Wortfetzen, doch es riss ihn wie ein Peitschenschlag herum.
    »Sag das noch einmal, Miene!«
    »Die Tochter des alten Trettin und ihre Familie könnten noch leben. Als das Feuer aufloderte, habe ich zum Fenster hinausgeschaut und gesehen, wie der neue Gutsherr am Lehrerhaus vorbeigefahren ist. Er hätte nur anhalten und rufen müssen, dann wären sie gerettet worden. Ich bin zwar noch zum Lehrerhaus gelaufen und habe geschrien, so laut ich konnte, aber es war zu spät.«
    »Das ist doch dummes Geschwätz! Behaupte so etwas nicht noch einmal, du alte Hexe!«, klang eine harte Stimme auf.
    Die Leute drehten sich erschrocken um, sahen den Pastor auf die Brandstelle zukommen und wichen zurück. Niemand von ihnen mochte den Mann. Sein Vorgänger war von echtem Schrot und Korn gewesen und hatte mit den Menschen geredet, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Der neue Pfarrer hingegen sprach nur Schriftdeutsch und versuchte nicht einmal, auf den Dialekt der Landbevölkerung einzugehen. Außerdem war er gut Freund mit dem neuen Herrn auf Trettin, und der hatte sich in den zwei Monaten, in denen er das Gut besaß, wie Kaiser Wilhelm persönlich aufgeführt und sich bei fast allen von ihm abhängigen Bauern und Dienstboten verhasst gemacht.
    Der Anblick niederbrechender Balken und der aufstiebenden Funken erinnerte den Pastor daran, dass es hier mehr zu tun gab, als den neuen Gutsherrn zu verteidigen.
    »Was ist geschehen?«, fragte er Kord.
    Der alte Mann wies mit der rechten Hand auf das Feuer. »Gebrannt hat es, und die Leute vom Lehrerhaus sind bis auf die Lore mausetot.«
    Der Blick des Pastors wanderte über die Menschen, bis er auf dem Mädchen haftenblieb. Dann trat er auf sie zu und zitierte einen frommen Spruch. Die Worte rauschten an Lore vorbei, die wie zur Salzsäule erstarrt dastand, und die Umstehenden machten hinter dem Rücken des Pastors verächtliche Gesten. Zu sagen wagte jedochniemand etwas, denn neben dem Gutsherrn war der Pastor der mächtigste Mann im Kirchspiel, und sie hatten bereits bitterlich erfahren, dass er unbedachte Aussprüche an Ottokar von Trettin weitertrug.
    Auch die alte Miene zog jetzt den Kopf ein. Wenn der Pastor dem Gutsherrn steckte, was sie vorhin gesagt hatte, würde dieser sie aus ihrer Kate jagen lassen. Dann blieb ihr nur noch das Armenhaus, und in das ging keiner freiwillig.
    Als die Dorfbewohner sahen, dass sie nichts mehr retten konnten, wandten sie den Resten des niedergebrannten Hauses den Rücken zu und schlurften zu ihren Hütten zurück. Kord blieb noch stehen, weil er nicht wusste, was mit Lore geschehen sollte. In diesem Zustand konnte das Mädchen unmöglich allein zum alten Jagdhaus laufen.
    Der Pastor nahm ihm die Entscheidung ab, indem er Lore zu sich winkte. »Du bleibst diese Nacht bei mir, und morgen bringe ich dich dann zum Gutshof.«
    Lore, der erst nach und nach bewusst wurde, was sie in dieser Nacht verloren hatte, nahm unter der Wucht der Verzweiflung und ihres Schmerzes, die sie innerlich auffraßen, kaum etwas von ihrer Umgebung wahr. Das Wort Gutshof aber drang in ihr Bewusstsein, und sie riss abwehrend die Hände hoch. »Dorthin gehe ich nicht! Mit dem neuen Herrn auf Trettin habe ich nichts zu tun.«
    »Da hat das Mädchen recht, Herr Pastor«, stimmte Kord ihr zu.
    »Wenn es nach dem Tod der Eltern jemanden gibt, der sich um Lore kümmert, dann ist es ihr Großvater.«
    Dagegen konnte auch der Pastor nichts einwenden. »Also gut, dann werde ich Lore morgen früh zum alten Herrn von
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