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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm
Autoren: Iny Lorentz
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einfachen Knechte und Arbeiter die Mützen vom Kopf, und die meisten Frauen knicksten. Der Blick des Pastors glitt jedoch über die Leute hinweg, und seine Mundwinkel zogen sich verächtlich herab.
    Obwohl der Schmerz um ihre Familie in ihr tobte, ärgerte Lore sich über die Gutsherrenallüren des Seelsorgers. Sein Vorgänger hatte für jedermann ein gutes Wort gehabt und offene Ohren für die Sorgen der Leute. Der neue Geistliche aber schien die Arbeiter und Knechte nicht einmal als Menschen anzusehen. Auch für sie hatte er kein Wort des Trostes gefunden, sondern sie nur wiederholt aufgefordert, sich doch besser in die Obhut Ottokar von Trettins und Malwines zu begeben, als zu ihrem Großvater zu gehen. Daher war sie froh, als das Gefährt auf den Forstweg zwischen den hohen Tannen einbog und der Brandgeruch, der immer noch in der Luft zu liegen schien, dem Duft des Harzes wich. Doch in Sicherheit fühlte sie sich erst, als sie das Jagdhaus vor sich auftauchen sah.
    Wolfhard Nikolaus von Trettin hörte den näher kommenden Wagen,trat vor die Tür und runzelte beim Anblick des ihm verhassten Pastors die Stirn. Noch mehr wunderte er sich jedoch, seine Enkelin auf dessen Wagen zu sehen. Das Mädchen war bleich wie ein Leinentuch, und ihr Blick erinnerte ihn an eine sterbende Hirschkuh. Sofort war ihm klar, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.
    Der Pastor ließ seinen Kutscher anhalten und stieg aus, ohne sich um Lore zu kümmern. »Gott zum Gruß, Herr von Trettin!«
    »Guten Tag, Pastor«, antwortete dieser mit der ganzen Arroganz eines ostpreußischen Junkers und verschränkte die Arme vor der Brust.
    Der Pastor beschloss, die Unhöflichkeit des alten Mannes zu übergehen, und setzte eine wohlwollende Miene auf. »Mein lieber Trettin, ich bedaure sehr, heute hier stehen und Ihnen eine schlechte Nachricht überbringen zu müssen. Es hat Gott, dem Allmächtigen, gefallen, Ihre Tochter, Ihren Schwiegersohn und alle Enkel bis auf dieses Mädchen hier zu sich zu nehmen.«
    Lores Großvater stand einen Augenblick lang wie erstarrt, dann packte er den Pastor mit einem harten Griff. »Was sagst du da, du Kretin?«
    »Mama, Papa, Wolfi, Willi und Ännchen sind tot! Es gab ein Feuer, und sie sind …« Lores Stimme klang dünn und versagte ihr schon bald den Dienst.
    Wolfhard von Trettin stieß einen Schrei aus, der nichts Menschliches an sich hatte. »Mein Kind, meine Enkel tot? Und dieser Pfaffe sagt auch noch, es hat Gott so gefallen?«
    »Versündigen Sie sich nicht!«, rief der Pastor mahnend. »Gottes Ratschluss ist unergründlich und kann von uns Menschen nicht begriffen werden. Wer weiß, welche Sünden Ihres Geschlechts durch dieses Feuer gesühnt wurden.«
    Der Blick, mit dem er Lores Großvater maß, ließ keinen Zweifel daran, wem der Pastor diese Sünden zuschrieb.
    Der alte Freiherr spürte, wie die Wut auf den Kirchenmann ihm das Blut in den Kopf steigen ließ und für den Augenblick selbst die Trauer um Tochter, Schwiegersohn und Enkel verdrängte.
    »Was ist das für ein Gott, von dem du sprichst? Ein gerechter Gott lässt nicht unschuldige Frauen und Kinder für die Sünden anderer im Feuer umkommen! Keiner meiner Enkel hat je eine größere Untat begangen, als zu Weihnachten heimlich ein Plätzchen zu essen! Warum also hätte Gott sie zu sich nehmen sollen? Es gibt genug arge Sünder im Land, die ein behagliches Leben führen, obwohl sie den Schlund der Hölle verdient hätten!« Wolfhard von Trettins Blick glitt dabei in die Richtung, in der sein verlorener Gutshof lag.
    Der Pastor legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter.
    »Nehmen Sie es als Mahnung des Himmels, Herr von Trettin, und reichen Sie Ihrem Erben die Hand zur Versöhnung. Dann wird Gott es Ihnen danken.«
    Der Alte fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und starrte den Pastor an, als habe dieser den Verstand verloren. »Was soll ich? Den Räuber meines Eigentums an mein Herz drücken? Das kann nicht einmal Gott von mir verlangen!«
    »Der neue Herr auf Trettin hätte alle retten können. Aber er ist an dem brennenden Haus vorbeigefahren, ohne sie zu wecken und zu warnen.« Erst als das Gesicht ihres Großvaters auf einen Schlag schneeweiß wurde, begriff Lore, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte.
    Der Pastor warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Hören Sie nicht auf das dumme Mädchen, Herr von Trettin! Ihre Enkelin wiederholt nur das haltlose Geschwätz einer verrückten alten Frau. Wäre der Gutsherr
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