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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm
Autoren: Iny Lorentz
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bewusstlose Mann und der harte Boden, auf dem sie kniete, zeugten überdeutlich davon, dass dies alles Wirklichkeit war.
    Als sie bereits nicht mehr daran glaubte, dass Hilfe käme, hörte sie den Hufschlag rasch trabender Pferde und die Stimme des Arztes, der seinen Knecht aufforderte, die Gäule schneller laufen zu lassen. Kurz darauf bog der Landauer auf den Platz vor dem Jagdhaus ein, und sie sah Schaumfetzen von den Mäulern der Tiere stieben.
    Doktor Mütze sprang ab, eilte zu dem Kranken und untersuchte ihn. Als er aufblickte, war sein schmales Gesicht außerordentlich ernst. »Es tut mir leid, mein Kind, aber es sieht nicht gut aus. Dein Großvater hat einen Schlaganfall erlitten, und wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.«
    Der Arzt hätte Lore gerne einen anderen Bescheid gegeben, aber das Mädchen hatte innerhalb eines Tages so viel Leid erlebt, dass er ihr keine Hoffnungen machen wollte, die sich höchstwahrscheinlich in Luft auflösen würden.
    »Binde die Pferde irgendwo fest und hilf mir, den alten Gutsherrn ins Haus zu tragen«, befahl er seinem Kutscher. Der Mann war gewöhnt, seinem Herrn zur Hand zu gehen, und trat sogleich an seine Seite. Gemeinsam schleppten sie den Bewusstlosen in das Schlafzimmer und legten ihn auf das Bett.
    »Bring uns ein frisches Nachthemd und warte dann vor der Tür«, wies Doktor Mütze Lore an.
    Sie eilte zum Wäscheschrank, legte eines der mit der Freiherrenkrone bestickten Nachtgewänder heraus und lief dann in die Küche, in der Elsie bleich am Tisch hockte und jammerte.
    »Wenn der Herr stirbt, weiß ich nicht, was ich tun soll!«, schluchzte sie. »Auf dem Gut gibt man mir gewiss keine Arbeit, das hat die neue Herrin bereits gesagt. Ich werde in die Stadt gehen müssen und …« Sie brach ab und starrte Lore so vorwurfsvoll an, als sei diese an allem schuld.
    »Großvater wird nicht sterben!«, fuhr Lore auf.
    Das Dienstmädchen machte eine verächtliche Handbewegung und stimmte eine weitere Jeremiade an.
    Es dauerte, bis der Arzt aus dem Schlafzimmer des Alten kam. Kopfschüttelnd, als könne er nicht glauben, was er gesehen hatte, wandte er sich an Lore. »Dein Großvater ist zäher als eine Katze und scheint mindestens neun Leben zu haben. Vorhin hätte ich keinen Heller mehr auf ihn verwettet, doch jetzt ist er wieder bei Bewusstsein und droht mir, weil ich ihm eine Spritze geben will.« »Großvater ist wieder gesund?« Lore wollte aufspringen und zu dem alten Herrn eilen, doch Doktor Mütze fasste sie am Arm und hielt sie zurück.
    »Ich sagte, er ist wach. Gesund wird er wahrscheinlich nie mehrwerden, obwohl mich das bei ihm auch nicht wundern würde.« Noch immer verblüfft über das Erwachen seines Patienten aus der tiefen Bewusstlosigkeit, bat er Lore um warmes Wasser zum Händewaschen und ein Handtuch.
    »Kann ich zu ihm?«, fragte das Mädchen.
    Der Arzt verneinte. »Es ist besser, du wartest, bis ich mit ihm fertig bin. Versuche bitte, ruhig zu bleiben! Ihn hat der Schlag getroffen, und er wird wahrscheinlich nie mehr laufen können. Seine linke Körperseite ist gelähmt. Erschrick also nicht, wenn dir sein Gesicht wie eine groteske Maske vorkommt.«
    Dann legte er ihr die Hand auf die Schulter und lächelte traurig. »Es tut mir leid um deine Familie, Lore. Wir haben vorhin das niedergebrannte Haus durchsucht und ihre sterblichen Überreste gefunden. Meine Hoffnung, jemand hätte sich noch rechtzeitig ins Freie retten können und würde im Schock durch den Wald irren, hat sich leider nicht erfüllt.«
    Lore schlug die Hände vor das Gesicht und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Tief in ihrem Inneren hatte sie gewusst, dass alle tot waren. Gleichzeitig spürte sie, wie der Schmerz über den Verlust ihrer Eltern und Geschwister von der Angst um ihren Großvater in den Hintergrund gedrängt wurde. Sie durfte sich nicht verkriechen und ihrer Trauer hingeben, sondern musste sich nun Tag und Nacht um ihn kümmern. Wenn er starb, gab es keinen Menschen mehr auf der Welt, dem sie etwas bedeutete und der sie vor ihren Verwandten auf dem Gutshof schützte.
    »Kopf hoch, Kind! Auch für dich wird irgendwann wieder ein Licht leuchten«, sagte Doktor Mütze, klopfte ihr aufmunternd auf den Rücken und kehrte zu seinem Patienten zurück.
    Wolfhard von Trettin hatte die rechte Hand um einen hölzernen Zapfen an der Rückseite der Bettwand gekrallt und versuchte sich aufzurichten, obwohl ihm die linke Körperseite den Dienst versagte.
    »Lass diesen Unsinn,
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