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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm
Autoren: Iny Lorentz
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»Peitsche die Pferde, Florin! Ich will so schnell wie möglich nach Hause.«

III.
     
    Lore stolperte durch den Wald und schimpfte mit sich selbst, weil sie die Abkürzung genommen hatte anstatt den längeren, aber in der Dunkelheit besser zu bewältigenden Forstweg. Zweimal war sie nun schon über eine Wurzel gestolpert, die sie in der Dunkelheit nicht gesehen hatte, und nun hatte sie sich auch noch den Saum ihres Kleides aufgerissen. Dabei handelte es sich um eines ihrer beiden guten Kleider, die sie nur dann anzog, wenn sie zu ihrem Großvater ging.
    Früher hatte sie den alten Herrn regelmäßig im Gutshaus besucht, und auch nachdem er in das kleine, ganz aus Holz gebaute und schon etwas schäbige Jagdhaus gezogen war, das ihm als einzige von all seinen Liegenschaften noch gehörte, hatte sie mit dieser Gewohnheit nicht gebrochen. Allerdings lag es mitten in einem ausgedehnten Waldgebiet, das fast bis an das Dorf Trettin reichte und nur zu einem kleinen Teil zum Gutsbesitz gehörte. Ihre feinen Kleider waren dort ein wenig fehl am Platz, doch ihr Großvater bestand darauf, dass sie sich wie eine Dame von Stand kleidete und auch so benahm. Nun tat es ihr leid um das beschädigte Kleid, und sie hoffte, es so nähen zu können, dass man den Schaden nicht sah.
    Für einen Augenblick dachte sie an die Frau des früheren Pastors, bei der sie nähen und sticken gelernt hatte. Bedauerlicherweise war die alte Frau nach dem Tod ihres Mannes nach Königsberg zu Tochter und Schwiegersohn gezogen. Den Kontakt zur Familie des neuen Pastors hatte der Großvater ihr verboten, weil der Geistliche vor dem neuen Gutsherrn auf Trettin liebedienerisch den Nacken beugte.
    Ein weiterer Fehltritt und ein stechender Schmerz im Knöchel rissen Lore aus ihrem Sinnieren, und sie humpelte weiter. Wennsie nicht achtgab, verirrte sie sich noch in dem ausgedehnten Forst, der an manchen Stellen in Moor überging. Zudem gab es noch ganz andere, reale Gefahren für ein Mädchen ihres Alters. An die Waldgeister, mit denen das Dienstmädchen ihres Großvaters ihr Angst einjagen wollte, glaubte sie jedoch nicht.
    Als Lore den Stumpf einer im letzten Sommer vom Blitz getroffenen Buche entdeckte, atmete sie erleichtert auf. Sie war noch auf dem richtigen Weg. Kurz darauf wurde das Kronendach lichter, und sie konnte wieder den Boden zu ihren Füßen erkennen. Sie beschleunigte ihre Schritte trotz des schmerzenden Knöchels, denn sie hoffte, zu Hause könne noch jemand wach sein. Wahrscheinlicher war es, dass ihre Eltern und Geschwister bereits im Bett lagen. Sie hatte mehrere Tage bei ihrem Großvater bleiben sollen, und daher wartete niemand auf sie. Wieder einmal ärgerte sie sich, dass sie als Älteste von vier Geschwistern keinen Schlüssel besaß, so würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als ihre Eltern zu wecken. Doch wie sollte sie ihnen ihr nächtliches Erscheinen erklären?, fragte sie sich. Ottokars Besuch bei dem alten Herrn musste sie verschweigen, um ihre Angehörigen nicht aufzuregen, und sie wollte auch nicht den Anschein erwecken, ihr Großvater hätte sie im Zorn nach Hause geschickt.
    Noch während sie darüber nachsann, entdeckte sie vor sich einen hellen Lichtschein über dem Horizont und vernahm laute, panikerfüllte Stimmen. Angst drohte ihr die Luft abzuschnüren, und sie begann zu rennen. Nach kurzer Zeit traf sie auf die Straße und sah ihr Elternhaus vor sich – hell auflodernd wie ein riesiger Scheiterhaufen.
    Menschen liefen gestikulierend hin und her oder schleppten Eimer, die sie am nahe gelegenen Bach füllten, um den Brand zu löschen. Doch die Hitze der hoch aufzüngelnden Flammen war so groß, dass das meiste Wasser verdampfte, bevor es das Dach oder die Fenster erreichte.
    Lore taumelte näher und hielt nach ihren Eltern und ihren Geschwistern Ausschau, sah aber nur Dorfnachbarn um sich, die zum Lehrerhaus geeilt waren und nicht weniger verzweifelt wirkten als sie.
    Eine Frau entdeckte sie und kreischte auf, als sähe sie ein Gespenst vor sich. Dann aber blickte sie zum Wald hinüber, in dem, ein gutes Stück entfernt, das Jagdhaus des alten Trettin lag. »Du warst wohl wieder bei deinem Großvater.«
    Das Mädchen nickte und deutete auf das Haus, dessen Dach nun in einer Wolke aufstiebender Funken einbrach. »Mama und Papa! Wo sind sie? Und wo …?« Das Gesicht der Frau aus dem Kolonialwarenladen verriet ihr genug.
    Ein Mann kam auf sie zu, fasste sie um die Schultern und drückte sie an sich. Lore blickte auf
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