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Deutschlehrerin

Deutschlehrerin

Titel: Deutschlehrerin
Autoren: J Taschler
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durch die Gegend wanderte oder Dinge im Haus reparierte und verbesserte, ich kann mich nicht erinnern, ihn einmal mehr als nur einen Satz reden oder Späße machen oder lachen gehört zu haben, auf mich wirkte er unglücklich und einsam, er starb im Dezember 1969 an einer Lungenentzündung, da war ich elf. Ich hatte nie etwas von einer Dorothy O’Flaherty gehört, auch meine Mutter nicht, da bin ich mir sicher, sie hätte mir sonst davon erzählt, sie erzählte mir gerne alle möglichen alten Familiengeschichten, ob meine Großmutter von dieser Geliebten in der Jugendzeit ihres Mannes wusste, weiß ich nicht, ich erlebte sie als sehr religiöse, fleißige, freundliche Frau, die sich liebevoll um mich kümmerte, mir auch viele alte Geschichten aus dem Dorf erzählte, aber keine einzige aus ihrem eigenen Leben.
    Ich weiß also nicht und werde es wohl nie wissen, ob mein Großvater damals all diese Briefe von Dorothy erhielt oder ob sie jemand aus seiner Familie, der unbedingt wollte, dass er in der Heimat blieb, hatte verschwinden lassen, bevor er sie zu Gesicht bekam, aber vermutlich hätte dieser Jemand sie eher verbrannt als sie in jenem Metallkästchen gesammelt und schließlich eingemauert, oder nicht?, wer weiß?, wir werden es nie wissen, vielleicht mauerte mein Großvater sie ja selbst in sein neues Haus ein? Auf alle Fälle hatte mein Großvater, mit oder ohne Dorothys Briefe, sich entschlossen, in der Heimat zu bleiben, das Oberhaupt der Familie Sand zu sein, die Schusterei weiterzuführen und Anna aus der Nachbargemeinde zu heiraten, ich stellte mir vor, wie schwer es ihm gefallen sein musste, die richtige Entscheidung zu finden, und mich hätte brennend interessiert, ob er seine getroffene Entscheidung je bereute. So entstand die Idee zu meinem Roman Geh nicht fort , den ich dann im November begann und der mir von Anfang an großen Spaß machte.
    Deinen Text las ich zum Schluss, er war ebenfalls wie ein Brief aufgebaut, er trug die Überschrift »Mein lieber Xaver!«, allerdings glaube ich, hattest Du nie vor, ihn mir zu geben oder zu schicken, und ich glaube auch, dass Du ihn in Schuroth nicht mit Absicht liegen ließest, es wäre Dir vielmehr peinlich gewesen, hätte ich oder meine Mutter ihn damals gelesen, Du fandest ihn ganz einfach nicht mehr, weil er hinter die Schublade gerutscht war. In Deiner Begeisterung für mein Elternhaus, Du sahst es zum ersten Mal, schriebst Du spontan Deine Zukunftsträume und Wünsche nieder, erinnerst Du Dich daran? Ich lege ihn meinem Brief bei, damit Du ihn auch wieder lesen kannst.
    Diesen Brief, er quillt über vor lauter Liebe, von Dir zu lesen, war schmerzhaft für mich – alles kam so ganz anders, als Du es Dir erträumt hattest! –, im ganzen Körper spürte ich diesen stechenden Schmerz, und ich wusste (ich hatte es schon vorher lange gewusst, aber nie so klar wie in diesem Moment, es war immer nur ein vages, verschwommenes Gefühl gewesen), dass ich vor sechzehn Jahren eine falsche Entscheidung getroffen hatte, nicht nur deshalb, weil die Tragödie mit dem kleinen Jakob nie passiert wäre, wenn ich Dich nicht verlassen hätte, sondern auch, weil ich nachher nie wieder so glücklich war wie mit Dir, weil ich nachher nie wieder jemanden so liebte wie Dich und von niemandem so geliebt wurde wie von Dir. So gerne hätte ich die Zeit zurückgedreht! Ich würde Dir dann an diesem 16. Mai 1996 die Tür öffnen, die Einkaufstasche voller Salat, Schnittlauch und Brot entgegennehmen und mit dir gemeinsam kochen und essen, wir würden am Balkon sitzen und über die bevorstehende Hochzeit reden und Immobilienanzeigen durchgehen, weil wir uns eine größere Wohnung oder ein Haus kaufen wollen.
    Tagelang ging ich wie ein Schlafwandler herum, ich fühlte mich benommen und gleichzeitig rastlos, mir war übel und ich konnte nicht schlafen und nicht essen, ich bekam alle diese Briefe nicht aus dem Kopf und vor allem Du gingst mir nicht aus dem Kopf, Du setztest Dich fest und bliebst in meinen Gedanken, ich hatte immer wieder an Dich gedacht, aber nie so heftig wie jetzt in Schuroth, ich bereute es wie ein Wahnsinniger, dass ich mich heimlich und feig aus unserer Wohnung und aus Deinem Leben geschlichen hatte.
    Und dann setzte sich der Gedanke fest, dass ich Dich unbedingt wiedersehen wollte, ich musste wissen, wie es Dir ging. Ich fand ziemlich schnell Deine Adresse im Internet heraus und war sehr verwundert, Dich in Innsbruck zu finden, ich packte ein paar Sachen zusammen,
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