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Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden
Autoren: Moritz Uslar
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gekämpft und durchgehalten hatte, war ich nicht einem Menschen nahegekommen, hatte ich nicht einen Satz gehört, nicht eine Geschichte erfahren. Und so lächerlich mein Engagement als Boxer von Anfang an gewesen war, so lächerlich war es auch zu Ende gegangen: Ein Ost-Fighter hatte den West-Reporter eine Westsau genannt. Das war zum Lachen. Das brauchte, so befand der Reporter, nicht weiter ernst genommen zu werden, und es war, natürlich, auch schlau, den Jungs nichts davon zu erzählen.
    Ich stand mit dem Trainer. Ich murmelte etwas von Dank und »absolutem Verständnis«. Wir gaben uns die Hand.
     
    Es waren meine letzten Tage in der Kleinstadt, und ich erledigte die Dinge, die auf meiner Liste standen.
    Ich stand herum.
    Ich versuchte, indem ich mit nichts rechnete, noch einmal eine Überraschung, eine aufregende Ungeklärtheit, eine der vielen Alltagsungeheuerlichkeiten von Oberhavel zu erleben.
    Ich unternahm den halbherzigen Versuch, mir das Kauf- verhalten der Bevölkerung von Oberhavel anzueignen, indem ich im Kik-Textil-Discount Unterhemden einkaufte.
    Die Farbe von Kik war Rot. Rote Werbetafeln schrien: »Reduziert! Reduziert! Reduziert!« Vor dem Discounter machten Tafeln Werbung für das sogenannte »Volks-T-Shirt« (kein Witz, eine gemeinsame Aktion von Kik und Bild.de). Herrenunterhemden gab es mit der Aufschrift »Vorsicht Macho«, »Hawaii Surf 77« oder »Give Me Rock Soul Jazz Blues«. Auf einem Frauen-T-Shirt war das Foto zweier Welpen, darunter der Schriftzug »Süße Möpse« abgebildet. Ich entschied mich für Unterhemden mit der Aufschrift »Kein Geld, aber potent«, das Stück zu 99 Cent.
     
    Beim sogenannten Griechen, wo das sogenannte Knoblauchbrot serviert wurde: Dort traf ich Janine, die Frau, mit der Raoul und Eric befreundet waren und die in der Gang der Aral-Jungs als gleichberechtigt, quasi als Mann akzeptiert wurde. Wir saßen auf einer Terrasse, mit Blick auf die Boote im Hafen.
    Sie sah wieder spektakulär aus (geschätzte Schmink- und Ankleidezeit zwei Stunden, ich bemerkte, als sie vor mir saß, dass sie, trotz der Hitze, eine dicke Schicht Make-up auf ihrem Gesicht trug). Sie war sehr süß und, anders als ich erwartet hatte, überhaupt nicht schüchtern. Sie hatte, wie sie auf Nachfrage erzählte, sechs Jahre Ausbildung hinter sich, drei Jahre als Friseuse, drei Jahre als Kosmetikerin, derzeit arbeitete sie in einem Salon in einem Außenbezirk (»Ihr Friseur«).
    In das Gerät, das vor ihr auf dem Tisch stand, erzählte Janine, weil ich mich akribisch danach erkundigte, von den aktuellen Frisur- und Kosmetiktrends, die für Oberhavel und das Umland von Berlin galten (der Nude Look, so Janine, sei aktuell im Kommen, also Natürlichkeit, lockige und leicht wellige Frisuren, Pastelltöne, keine grel len Farben). Janine erzähle, sie arbeite wie ein Tier und finanziell trotzdem nicht klar. Nach 37 Stunden Arbeit im Friseursalon bekäme sie 637 Euro ausgezahlt. Der Beruf der Friseuse sei eben grundsätzlich schlecht bezahlt und in dieser Region noch einmal ganz besonders übel bezahlt. Neben ihrem Lohn kassiere sie Hartz IV, als Zuschuss, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
     
    Der Reporter stellte die naheliegende Frage, warum sie dann überhaupt noch arbeite: wenn der Lohn, den sie mit ihrer Arbeitskraft erwirtschafte, zum Überleben nicht ausreiche. Janine: »Das fragen mich alle. Alle meine Freundinnen fragen mich, ob ich noch ganz dicht bin. Ich bin neun Stunden auf Arbeit und habe so wenig Geld, dass ich mir das Nötigste nicht leisten kann. Ich habe kein Bett, keinen Schrank. Ich schlafe auf dem Boden. Ich lege meine Kleider auf den Fußboden. Es reicht nicht.«
    Ich konnte nur schwer zuhören. Ich hörte den Text, den Friseusen im Fernsehen erzählten, wenn die Reporter von ARD – Magazinen die Fragen stellten. Das Irre war nur: Diese Friseuse, die aus nachvollziehbaren Gründen einen Mindestlohn forderte, war echt. Sie saß direkt vor mir.
     
    Mein drittes Treffen mit Speedy verlief ähnlich finster wie die zwei vorangegangenen Treffen. Ich gab ihm gleich den Fünfziger, damit ich die Sache hinter mir hatte. Der Schein verschwand blitzschnell in seiner Hosentasche. Er trug wieder das Brasil-T-Shirt (wenn er noch andere T-Shirts besaß, dann war dies sein Lieblings-T-Shirt). Speedy hielt eine Tüte mit Tabak und Kartoffeln in der Hand, der Tabak und die Drehfilter seien für den Vater, die Kartoffeln fürs Abendessen. Er war auf dem Heimweg.
    Wir schoben unsere
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