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Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden
Autoren: Moritz Uslar
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Fahrräder über die Zugbrücke, aus der Stadt hinaus, die Waldstraße hinunter, am Werk II, Werk III, Werk IV vorbei, entlang der Wiesen, Halme, Farne, Gräser, entlang der Seen, die in der Nachmittagssonne glitzerten, und er erzählte. Er erzählte gut, ernst, klar. Speedy, so hörte ich ihn erzählen, sei in den Häusern der ehemaligen Ziegelei aufgewachsen und drei Mal umgezogen, vom Werk II bis ins Werk V. Wo er jetzt wohne, im Werk V, das könne man so sagen, sei es am heruntergekommensten. Hier draußen, in den Ziegeleien, so Speedy, wohnten vielleicht viele Arbeitslose und Alkoholiker, aber es seien deshalb nicht alle Asoziale, es seien, so Speedy, keine schlechten Menschen hier draußen. Er, Speedy, sei der Jüngste hier.
    Speedy, eigentlich Marco Kottschek, wurde vor 21 Jahren in Oberhavel geboren. Den leiblichen Vater aus Mosambik hatte er nie kennengelernt. Der Vater, mit dem er zusammen wohnte, war sein Pflegevater (er habe derzeit einen Ein-Euro-dreißig-Job als Hausmeister), seine Mutter, die im Zentrum von Oberhavel lebte, hatte ihren Ein-Eurodreißig-Job gerade beendet (nun, so das Amt, müsse die Mutter wieder ein Jahr warten, bis sie Arbeit annehmen dürfe). Er habe die Gesamtschule besucht (»Die zehnte Klasse leider nicht bestanden«), habe eine Maurer-Lehre absolviert (»Die Lehre leider nicht erfolgreich abgeschlossen«), sei vom Bund ausgemustert worden (wegen Untergewicht), sei derzeit arbeitslos gemeldet, also auf Hartz IV (»Ja, leider«). Speedy erzählte, er sei in jeder Hinsicht aktiv, um an eine Arbeit zu kommen: Es klappe aber bisher noch nicht ganz.
     
    Wir standen vor den Häusern, in denen Speedy mit seinem Pflegevater wohnte: brutal heruntergekommene Buden. In einem der beiden Zimmer, so Speedy mit Blick auf die Fassade, schimmelte es, das sei deshalb leider nicht zu betreten. Gras; Sand; Brennholzstapel; verrostete Öfen; Wellblech. Vor einem Schuppen saßen zwei Frauen mit Arbeitskittel und dicken Bäuchen und guckten; Katzen strichen durchs Gras. Es war natürlich auch wieder ein poetischer Anblick, eine Mischung aus Michel aus Lönneberga, Huckleberry Finn und irgendeinem eisenharten Gangsterfilm mit Sean Penn, der in den Trailerparks von Los Angeles spielte.
    Speedy erzählte – er lieferte auf seine Art die Ware, für die er im Vorab bezahlt worden war, ohne dass wir besprochen hatten, aus was genau diese Ware bestehen sollte. Vielleicht redete er deshalb so viel. Der Informant war, gemessen an der Menge des Stoffs, den er lieferte, ein denkbar guter und zuverlässiger Geschäftspartner. Er fahre gerne Motorrad, erzählte Speedy, praktisch das ganze Gelände der ehemaligen Ziegeleien sei Privatgelände, da brauche man keinen Führerschein. Er habe mit Drogen nie viel am Hut gehabt, aber bei einigen seiner Kumpels, da sei mit Pillen und Amphetaminen natürlich die Hölle los. Es sei nicht ganz einfach, aber auch nicht ganz schwierig, mit schwarzer Hautfarbe in Oberhavel zu leben: »Wenn meine Freunde mich Neger nennen, dann habe ich damit kein Problem, weil ich weiß, dass das meine Freunde sind. Wenn mich in Berlin einer so nennt, sehe ich das als Beleidigung.«
    Wenn er besoffen sei, so fuhr Speedy fort zu erzählen, höre er am liebsten deutsche Schlager, ja richtig, die harten Sachen, Matthias Reim, Andrea Berg – aber stopp. Komisch.
    All diese Geschichten interessierten mich plötzlich nicht mehr. Ich fand ihn einen besonders netten Jungen, ich hörte ihm gerne zu, ich hielt ihn auf eine glamouröse Art für schlau, gerissen und seinen Lebensumständen perfekt angepasst, aber das interessierte jetzt alles nicht, das war jetzt gleich.
     
    Ich stand im hohen Gras der ehemaligen Ziegelei Werk V, sah den Jungen mit dem Brasil-T-Shirt an. Ich dachte: Wer bist denn du? Warum erzählst du mir das alles? Was geht mich dein Leben an?
     
    Es war dies der Moment, an dem meine Recherchen beendet waren. Simple Sache: Die Beobachtungs-Batterien waren leer. Meine Reporter-Energien waren aufgebraucht. Ich war erschrocken, aber gleich auch ein bisschen erleichtert darüber, als ich merkte, dass der Antrieb, die Faszination, die es in all den Wochen immer gegeben hatte, einfach nicht mehr da waren. Jetzt sollten die anderen Reporter, die von Zeit , Spiegel und Süddeutsche und die vom ZDF , übernehmen.
    Die Profis.
    Macht ihr mal weiter, ihr.
    Sendet.
    Schreibt.
     
    Was kannst du am besten, Speedy?
    »Was kann ich am besten …«
    Perverse Frage, oder?
    »Perverse Frage, ja
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