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Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden
Autoren: Moritz Uslar
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Antritt meiner Reise, gesucht und mir ausgemalt und in die Berliner Runde, die zugehört hatte, als Sehnsucht, als letztes Abenteuer, als Masterplan für die Zukunft hineingepredigt hatte: weniger erleben, nichts erleben, herunterfahren, sich von dem Wenigen ungleich mehr beeindrucken, ja am besten richtig aus der Fassung bringen lassen. Das Nichts angucken und im Nichts die Zusammenhänge erkennen. Wow.
    Konnte es sein, dass die Jungs – eben weil sie ein Leben außerhalb des Konkurrenzdrucks und der Karrieren führten – schon eine Runde weiter waren? Gab es in Deutschland, der Republik von Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Niedriglöhnen, Armut und Entvölkerung, nicht stündlich mehr Biografien wie die von Raoul, Eric und Rampa?
    Und wenn dies tatsächlich so war: War es nicht an der Zeit, dass wir, die an dem uralten, rührend altmodischen, aller Wahrscheinlichkeit nach längst abgelaufenen Konzept »Selbstverwirklichung durch Arbeit« festhielten, endlich anfingen, die Benachteiligten, die Randexistenzen der Gesellschaft als das zu sehen, was sie in Wahrheit wohl waren, keine Problemfälle, sondern die Mitte und Zukunft unserer Gesellschaft, die Avantgarde?
    Ich hatte Freude an diesen Gedanken. Und ich hielt es für möglich, dass all diese Denkmanöver Bullshit waren: hipper, neunmalkluger, wohlklingender, ausgedachter Shit. Also dummes Gewäsch. Fieser Moment. Der Reporter glaubte in diesem Moment sich selbst nicht so recht.
     
    Ich beugte mich vor. Der Reporter nahm das Aufnahmegerät in die Hand und hielt es den Jungs unter die Gesichter. Dann redete ich mich in Rage.
    Ich schilderte den Jungs, wie wüst und leer ihr Alltag meiner Meinung nach aussah, wie gespenstisch offen jeder Tag in diesem Sommer vor ihnen lag. Ich schilderte auch, wie gekonnt, abgeklärt, wie weise und beeindruckend kämpferisch und gut gelaunt sie die Leere in ihrem Alltag bewältigten. Der Reporter hatte nun das Gefühl, an einem ganz heißen Eisen, am entscheidenden Thema der Kleinstadt dran zu sein.
    Raoul: »Da kann ich nichts von unterschreiben – von alldem, was du da gerade erzählt hast.«
    Rampa: »Langweilig war uns nie.«
    Raoul: »Wir jammern nicht, das gibt es bei uns nicht.«
    Eric: »Das ist eine Kleinstadt hier. Da hat man sich damit abgefunden, dass hier nicht die Hölle los ist.«
     
    Und in der Fortsetzung sprachen die Jungs die weniger tough klingenden, aber anders wahren Sätze: Eric: »Leute denken, dass wir den ganzen Tag zu Hause sitzen, Talkshows gucken, Bier aus der Dose saufen und darauf warten, dass sich die hässliche Alte vom Hartz-IV- Amt meldet. Und abends sitzen wir mit dem versoffenen Nachbarn draußen auf der Stufe vor der Haustüre und sprechen über unsere Träume.«
    Ja.
    Und? War so? War nicht so?
    Eric: »Nee. Ist nicht so.«
    Es kam aber dummerweise auch keine Erklärung, zumindest nicht von Eric, wie es stattdessen war.
    Der Reporter lauschte.
    Rampa: »Normalerweise ist Arbeit kein Problem. Du gehst zu einer Zeitarbeitsfirma in Berlin, und ruck, zuck hast du Arbeit. Aber dann schuftest du halt für einen sehr niedrigen Lohn: fünf, sechs Euro die Stunde. Und der lohnt sich nicht, weil du jeden Tag nach Berlin musst.«
    Raoul: »Ich kenne Leute, die buckeln für einen Fünfziger die Woche. Nur, damit sie einen Sinn im Leben haben. Da wäre mir meine Arbeitskraft zu schade.«
    Raoul erklärte: »Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet. Nun arbeite ich halt mal nicht … Ich muss mich nicht alsschlechter Mensch fühlen,s bloß weil ich gerade mal keine Arbeit habe.« Rampa: »Ich kann ganz schlecht nicht arbeiten. Morgens um sechs stehe ich auf und sage: Was machst du mit diesem Tag? Wo willst du hin?« Eric: »Ewige Ferien, das ist eine furchtbare Vorstellung, das geht gar nicht.«
    Er, Eric, sah erneut seine Kumpel an. Er stellte erneut die stumme Frage, ob das, was er zu sagen hatte, sagbar war. Er entschied sich dafür, im Angesicht seiner Kumpel, die mit ihm am Tisch saßen, seine Sache nicht zu sagen. Der Reporter machte eine Notiz im Kopf: Eric fragen. Vielleicht würde Eric später, bei anderer Gelegenheit, aussagen.
     
    Ich fragte Raoul, was er den Arbeitslosen von Oberhavel empfähle, was sie an so einem Dienstagmorgen um elf Uhr mit ihrem Leben am besten anfangen sollten. Raoul: »Elf Uhr? Da stehen wir doch erst uff.«
    Gute Stimmung.
    Gelächter.
    Heiko?
    Ja, bitte.
    Danke.
     
    Es setzte sich Heiko an den Tisch, Pfundi, der Mann vom privaten Sicherheitsdienst, kam auch dazu, und
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