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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium
Autoren: Christin C. Mittler
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Mein Körper wollte sich gegen das wehren, was ich tun wollte.
    Mieser Verräter!
    Jaron wollte bei der Trainingshalle auf mich warten.
    Auf dem Weg dorthin dachte ich daran, dass Noemie und ich unsere Mutter gestern noch einmal besucht hatten.
    Meine Mutter hatte kein Wort über die Eingeweihten oder die Welt der Sehnsüchte verloren; sie hatte sogar so getan, als habe es ihren Aussetzer in der Villa nie gegeben. Aber die vollen zwei Stunden lang hatte sie mich beobachtet. Ich hingegen hatte bewusst darauf geachtet, ihr keinen Grund zur Besorgnis zu liefern.
    Sie würde mir zustimmen, dass ich das Richtige tat. Gleichzeitig war ich mir sicher, dass sie nicht verstanden hätte, warum ich noch einmal zurückkehrte. Sie würde es nicht verstehen, obwohl es nicht mehr als menschlich war, dass ich hierher kam.
    Auch wenn er nicht einmal ein richtiger Mensch war!
    Jaron lehnte an einem der Bäume. Auf den ersten Blick war seine Haltung entspannt. Er wirkte so normal, dass es wehtat. Bei genauerem Hinsehen sah ich, dass er unruhig zappelte.
    Zum gefühlt tausendsten Mal sah ich dabei zu, wie er sich durch das helle Haar ging.
    Ich hätte versuchen können, herauszufinden, was er dachte. Dank uns erer Verbindung hätte ich in ihn hineinsehen können wie ein Buch. Aber ich verschloss mich davor.
    Es war seltsam zu beobachten, wie sein Körper auf mich reagierte, noch bevor er mich sah. Seine Füße lenkten ihn zu mir, wobei er den einen leicht nachzog. Der Anflug eines Lächelns umspielte seinen Mund, als er mich erblickte.
    »Cassim.« Plötzlich stand er vor mir.
    Mit einer Sprachlosigkeit, die ich bei mir selbst nur selten erlebt hatte, betrachtete ich ihn.
    Dafür, dass Darragh ihn bis zur Bewusstlosigkeit gefolter t hatte, sah er wirklich überraschend gut aus. Das blonde Haar war verstrubbelt wie immer, kein Blut klebte daran. Die übel aussehenden Kopfwunden waren verschwunden, das Gesicht beinahe gänzlich verheilt. Lediglich eine Schürfwunde erinnerte daran, wie Jarons angeblich bester Freund seine Nase mehrmals zerquetscht hatte.
    Seine Kleidung war brandneu und für seine Verhältnisse geradezu normal: Unter der braunen Lederjacke, ohne die ich ihn mir gar nicht mehr vorstellen konnte, trug er ein smaragdgrünes Poloshirt. Seine Hose kam einer dunklen Jeans näher als alles, was er je zuvor getragen hatte.
    Nur ein Fuß steckte in den roten Turnschuhen; am rechten trug er ledi glich eine Socke. Er war noch immer geschwollen, weshalb ich vermutete, dass er nicht mit Ian oder dem neuen Auto gekommen war. Falls es nicht wieder verschwunden war.
    Ich ließ mir absichtlich Zeit, den Blick von seinem lädierten Fuß abz uwenden, denn ich wusste, was mich als Letztes erwarten würde: Seine Augen. Seine dunklen, schleierlosen, leuchtend silbernen Augen zogen mich in einen Bann wie er nur zwischen uns bestehen konnte. So oft hatte ich ihn wahrgenommen, aber noch nie hatte ich ihn so deutlich gespürt wie in diesem Moment.
    Bevor ich ihn davon abhalten konnte, streckte Jaron eine Hand nach mir aus. Seine Finger berührten meine Wange, strichen behutsam über meine Schläfe. Die gewöhnlichen Schmerzen wichen einem Knistern.
    Als sei es etwas vollkommen Normales zwischen uns, beugte er sich zu meinem Ohr vor; sein Atem streifte mein Gesicht.
    Nun durchzuckte mich etwas, aber es war kein Schmerz. »Ich wollte dich s ehen.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
    »Jar on …«, begann ich. Zugegeben, es hatte schon deutlich bessere Versuche gegeben, meine vernünftige Seite die Oberhand gewinnen zu lassen.
    Doch selbst verletzt und gefesselt hatte ich mich nicht so hilflos gefühlt wie in diesem Moment. Denn da waren e r und sein starker freier Wille. Es gab keine Sehnsucht, die einen so großen freien Willen hatte. Keine Sehnsucht, die mich mehr anzog. Keine Sehnsucht, von der ich mich deshalb weiter fernhalten sollte – theoretisch.
    Auf meinen Einwand nicht reagierend, legte er einen Finger unter mein Kinn. Seine Lippen waren nur noch Millimeter von meiner Haut entfernt. »Ich hab mir Sorgen gemacht«, gestand er kaum verständlich.
    »Aber du wusstest doch, dass es mir gut gehen muss.« Erfolglos ve rsuchte ich, abschreckende Bilder von unserer letzten Begegnung heraufzubeschwören. »Wenn nicht, hättest du es gemerkt.«
    »Ich konnte nicht mehr klar denken.«
    Ehe ich auch nur meinen Gedanken zu Ende führen konnte, waren seine Lippen zu meinen gewandert. Zum zweiten Mal in meinem Leben wurde ich geküsst. Zum
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