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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium
Autoren: Christin C. Mittler
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oder meine Eltern angerufen hatte, wenn ich zu lange allein geblieben war. Manchmal war ich auch in einen naheliegenden Park gegangen, hatte dort auf einer Bank gesessen, gelesen oder illegaler Weise Enten mit Brot gefüttert.
    Seit dem Tod meines Vaters hatte ich mich in unsere Familiengruft zurückgezogen .
    Eine Woche nach den Ereignissen in der Stadt der Echos saß ich wieder dort. An der Wand des Mausoleums, die Arme um meine Beine g eschlungen. Ganz leise hörte ich Musik.
    Noemie hatte die gesamte Musik, die Alice mir gegeben hatte, auf ihren alten, heimlich gekauften IPod gespielt und ihn mir geschenkt.
    Ich stellte fest, dass meine neue Playlist eine beruhigende Wirkung auf mich haben konnte.
    Ziel erreicht! Ich hatte einen Ort, an dem ich nicht mehr nachdachte. Ich musste Ordnung in das Chaos in meinem Kopf bringen. Von den vielen Erlebnissen und neuen Emotionen, die mich in den letzten Tagen überrannt hatten, tat mir alles weh.
    Ich saß bereits eine ganze Weile auf dem Boden, als die schwere Tür einen Spalt breit weiter geöffnet wurde. Sonnenlicht strömte rein und wärmte meine Füße, die nur in einem Paar Ballerinas steckten.
    Die Geräusche ließen mich zusammenzucken. Was angesichts der Ereignisse in der Stadt der Echos kaum verwunderlich war – ich war eben eine ziemliche Memme geworden. Vorsorglich zog ich einen der Stecker aus dem Ohr und lauschte angespannt.
    Alice setzte sich neben mich und zog ihre dunkle Jeansjacke aus. Ihren Blick richtete sie in dieselbe Richtung wie ich; sie lächelte. »Ich wusste, dass du hier bist.«
    »Das sagst du jedes Mal. Allmählich glaube ich, dass du mir einen Peilsender untergeschoben hast.«
    Von der Seite musterte sie mich. Die herabbaumelnden Kopfhörer entlockten ihr ein weiteres Lächeln. »Was hörst du?«
    Ich gab ihr einen und steckte mir den anderen selbst wieder ins Ohr.
    Soeben begannen die leisen Gitarrentöne eines neuen Liedes, in dem es um eine brennende Welt ging, in der nur eine bestimmte Person den Sänger retten konnte.
    »Ich hatte schon immer ein Talent dafür, äußerst passende Texte zu finden «, bemerkte sie, griff dann jedoch nach dem Gerät und schaltete es aus. »Aber wir müssen es nicht noch schlimmer machen …«
    Ein paar Minuten schwiegen wir uns an, auch wenn ich das Gefühl nicht los wurde, dass Alice darauf wartete, dass ich etwas sagte.
    »Mein Kunstkurs war vorgestern im Museum «, gab sie schließlich nach. »Ich hab nachgeguckt, aber das Gemälde war nicht mehr da.«
    »Sie haben es wegge bracht, vielleicht sogar zerstört, bin mir nicht sicher«, murmelte ich tonlos.
    Alice drückte meine Hand. »Du wirkst nicht sonderlich begeistert davon.«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Ein Gemälde weniger, wegen dem ich nicht mehr weiß, was ich tue.«
    Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Julien Durands hatte das Gemälde gemalt, ein Auserwählter, der auf diese Weise versucht hatte, mit dem Erlebten umzugehen. Seine größte Sehnsucht war es gewesen, als Künstler anerkannt zu werden. Der Gedanke, dass sein Gemälde möglicherweise zerstört wurde, machte mich in gewisser Weise traurig. Vergangene Nacht hatte ich sogar von ihm geträumt.
    Außerdem fragte ich mich, was inzwischen aus den entführten Sehnsüchten geworden war. Vermutlich waren sie verschwunden. Ich wusste es nicht und würde es nie erfahren.
    »Ist dein Großvater inzwischen aufgewacht?«, zog Alice mich aus meinen Gedanken. Sie zögerte überdeutlich.
    »Nein. Er liegt nur da. Friedlich und scheinbar unschuldig. Es hat sich kaum etwas geändert. Die Ärzte stehen verständlicherweise vor einem Rätsel. Schließlich zählen gestorbene Sehnsüchte nicht gerade zu den bekanntesten Krankheitsursachen. Aber die Eingeweihten sind optimistisch, dass ihr verehrter Anführer sich erholen wird. Monsieur Chevalier meinte, es könnte mich interessieren, dass ein halbwegs direkter Tod nach so etwas eher selten ist. Inzwischen wissen wir ja, dass das ‚im Laufe der Zeit’ der Sehnsucht von heute mehr liegt.«
    »Es besteht also kein Zwe ifel daran, dass Darragh die Sehnsucht deines Großvaters war?!«
    »Nope, kein Zweifel.« Meine Hand fand einen Stein, kleiner als ein Würfel. Ich beschäftigte meine Hand damit, ihn hochzuwerfen und wieder zu fangen. »Ich hab es in dem Moment gewusst, als ich ihn gesehen habe. Dazu habe ich gestern alte Bilder von ihm gefunden. Dort sieht er Ölprinz so ähnlich wie Lillian mir. Er hat bis zu diesem Zeitpunkt außerordentlich gut
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