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Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder
Autoren: Jeff Lindsay
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umherfliegenden Köperteile, das – Blut …« Wieder mit dieser Furcht einflößenden Betonung. »Zweieinhalb Tage haben wir in dem Zeug gehockt. Ein Wunder, dass wir überhaupt überlebt haben, nicht? Man könnte beinah anfangen, an Gott zu glauben.« Seine Augen glitzerten, und aus irgendeinem Grund bäumte Deborah sich auf und gab ein ersticktes Geräusch von sich. Er ignorierte sie. »Sie glaubten, du seist jung genug, um darüber hinwegzukommen. Ich war ein bisschen jenseits dieser Altersgrenze. Aber wir beide haben ein klassisches traumatisches Ereignis durchlebt. Die Fachliteratur ist sich einig. Es machte mich zu dem, was ich bin – und mir kam der Gedanke, dass es bei dir genauso gewesen sein könnte.«
    »So war es«, sagte ich. »Ganz genau so.«
    »Ist das nicht schön?«, meinte er. »Familienbande.«
    Ich sah ihn an. Meinen Bruder. Das fremde Wort. Hätte ich es laut ausgesprochen, hätte ich mit Sicherheit gestottert. Es war vollkommen unmöglich, das zu glauben – und noch absurder, es zu leugnen. Er sah aus wie ich. Wir mochten die gleichen Dinge. Er hatte sogar meinen sonderbaren Sinn für Humor.
    »Ich …« Ich schüttelte den Kopf.
    »Ja«, sagte er. »Man braucht ein paar Minuten, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass es zwei von uns gibt, oder?«
    »Vielleicht ein bisschen länger«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob ich …«
    »Ach, mein Lieber, sind wir ein bisschen zimperlich? Nach allem, was passiert ist? Zweieinhalb Tage haben wir hier gesessen, Brüderchen. Zwei kleine Jungs, die zweieinhalb Tage im Blut hockten«, sagte er, und mir wurde übel, mir war schwindelig, mein Herz raste, mein Kopf hämmerte.
    »Nein«, würgte ich und spürte seine Hand auf meiner Schulter.
    »Es ist ohne Bedeutung«, sagte er. »Von Bedeutung ist nur, was jetzt geschieht.«
    »Was … geschieht?«, stammelte ich.
    »Ja … was geschieht. Jetzt.« Er gab ein kleines, sonderbares, schnüffelndes, gurgelndes Geräusch von sich, das sicherlich ein Lachen sein sollte, aber vielleicht hatte er nicht gelernt, es so perfekt vorzutäuschen wie ich. »Ich glaube, ich sollte etwas sagen wie: Mein Leben lang habe ich auf diesen Moment gewartet!« Er wiederholte das schnüffelnde Geräusch. »Natürlich hat keiner von uns beiden das mit den echten Gefühlen hingekriegt. Wir können gar nicht richtig empfinden, nicht wahr? Wir beide haben unser Leben lang eine Rolle gespielt. Haben uns durch diese Welt bewegt, Sätze zitiert und vorgegeben, in eine Welt zu gehören, die für Menschen gemacht ist, und waren dabei selbst niemals menschlich.
    Und immer, ewig, auf der Suche nach einem Weg, etwas zu FÜHLEN! Auf der Suche nach einem Moment wie diesem, kleiner Bruder! Wirkliche, echte, nicht vorgetäuschte Empfindungen! Es ist atemberaubend, nicht wahr?«
    Und so war es. Mir schwirrte der Kopf, und ich wagte nicht, die Augen zu schließen aus Angst vor dem, was auf mich warten mochte. Und schlimmer noch, mein Bruder saß direkt neben mir, beobachtete mich, forderte mich auf, ich selbst zu sein, wie er zu sein. Und ich selbst zu sein, sein Bruder zu sein, zu sein, was ich war, musste, musste – was? Mein Blick wanderte von allein zu Deborah.
    »Ja«, sagte er, und in seiner Stimme lag nun der ganze kalte, glückliche Zorn des Dunklen Passagiers. »Ich wusste, dass du es begreifen würdest. Dieses Mal tun wir es gemeinsam.«
    Ich schüttelte den Kopf, aber nicht sehr überzeugend.
    »Ich kann nicht«, sagte ich.
    »Du musst«, sagte er, und wir hatten beide Recht. Erneut die federleichte Berührung meiner Schulter, fast genauso wie der Schubs von Harry, den er niemals verstehen konnte, und doch schien dieser in jeder Hinsicht genauso kraftvoll wie die Hand meines Bruders, die mich auf die Füße zog und vorwärts schob; einen Schritt, zwei – Deborah hielt, ohne zu blinzeln, meinem Blick stand, aber mit dieser Präsenz hinter mir konnte ich ihr nicht sagen, dass ich ihr selbstverständlich nichts – »Gemeinsam«, wiederholte er. »Noch ein Mal. Raus mit dem Alten. Rein mit dem Neuen. Aufwärts, abwärts, einwärts …«
    Ein weiterer halber Schritt – Deborahs Augen schrien mich an, aber …
    Jetzt war er neben mir, stand bei mir, und in seiner Hand glänzte etwas, zwei etwas. »Einer für alle, beide für einen – hast du mal die Drei Musketiere gelesen?« Er warf eines der Messer in die Luft; es beschrieb einen Bogen, landete in seiner linken Hand, und er streckte es mir entgegen. Das schwache, gedämpfte Licht
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