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Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder
Autoren: Jeff Lindsay
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rasch durch die Nase, da ihr Mund ebenfalls mit einem Streifen Paketband zugeklebt war, der über ihre Lippen zum Tisch hinunter verlief und sie so festhielt.
    Ich versuchte, mir eine Begrüßung einfallen zu lassen, bemerkte aber, dass mein Mund zu trocken zum Sprechen war, und deshalb sah ich sie nur an. Deborah schaute zurück. In ihrem Blick lagen viele Dinge, aber das Deutlichste war Furcht, und das hielt mich dort am Eingang fest. Ich hatte diesen Blick noch nie bei ihr gesehen, und ich war nicht sicher, was ich davon halten sollte. Ich machte einen kleinen Schritt auf sie zu und sie stemmte sich gegen das Paketband. Angst? Selbstverständlich – aber Angst vor mir? Ich war hier, um sie zu retten. Warum sollte sie Angst vor mir haben? Es sei denn …
    Hatte ich das getan?
    Was, wenn Deborah in meinem Apartment eingetroffen war, während ich mein kleines »Nickerchen« gehalten hatte und statt meiner den Dunklen Passagier am Steuer des Dextermobils vorgefunden hatte? Und ich sie dann, ohne davon zu wissen, hierher gebracht und sie schmerzhaft an den Tisch gefesselt hatte, ohne dass dies in mein Bewusstsein vorgedrungen war – was natürlich überhaupt keinen Sinn ergab. War ich danach nach Hause gerast, hatte mir selbst die Barbiepuppe beschert, war dann nach oben gerannt und hatte mich ins Bett geworfen, um dann wieder als »Ich« zu erwachen, als würde ich an irgendeinem mörderischen Staffellauf teilnehmen? Unmöglich, aber … Wie hätte ich sonst hierher gefunden? Ich schüttelte den Kopf. Es gab keine Möglichkeit, wie ich diesen einen Kühlcontainer unter allen anderen Containern Miamis hätte herausfinden können, es sei denn, ich wusste, wo er sich befand. Und das hatte ich gewusst. Die einzige Möglichkeit war, dass ich schon vorher hier gewesen war. Und wenn nicht heute Abend mit Deb, wann dann und mit wem?
    »Ich war fast sicher, dass es der richtige Ort ist«, sagte eine Stimme, eine Stimme, die der meinen so ähnlich war, dass ich für einen Moment glaubte, es selbst gesagt zu haben und mich fragte, was ich damit meinte.
    Mir sträubten sich die Nackenhaare, und ich trat einen weiteren Schritt auf Deborah zu – und er trat aus dem Schatten heraus. Der weiche Schein der Laternen beleuchtete ihn und unsere Blicke trafen sich; einen Augenblick lang schwankte der Raum vor und zurück, und ich verlor die Orientierung. Mein Blick wanderte zwischen mir an der Tür und ihm an dem provisorischen Tisch hin und her, und ich sah mich, wie ich ihn sah und dann sah ich ihn, wie er mich sah. Und in einem leuchtenden Blitz sah ich mich ruhig und reglos auf dem Boden sitzend, und ich wusste nicht, was diese Vision bedeutete. Äußerst beunruhigend – und dann war ich wieder ich selbst, obwohl ich nun irgendwie unsicher war, was das bedeutete.
    »Fast sicher«, sagte er wieder, eine sanfte und glückliche Stimme wie Mr Roger’s bekümmertes Kind. »Aber jetzt bist du hier, demnach muss es der richtige Ort sein. Glaubst du nicht?«
    Es gibt keine Möglichkeit, es hübsch zu formulieren. Die Wahrheit ist, ich starrte ihn mit hängender Kinnlade an.
    Ich bin ziemlich sicher, dass ich fast sabberte. Ich starrte ihn einfach an. Er war es. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Er war der Mann auf den Aufnahmen, die wir auf der Webcam entdeckt hatten, der Mann, von dem Deborah und ich angenommen hatten, er könnte ich sein.
    Aus dieser Nähe konnte ich erkennen, dass er tatsächlich nicht ich war; nicht ganz, und bei dieser Erkenntnis überkam mich eine gewisse Dankbarkeit. Hurra –, ich war jemand anders. Ich war nicht völlig verrückt. Ernsthaft antisozial natürlich, und irgendwie sporadisch mörderisch, das war in Ordnung. Aber nicht verrückt.
    Es gab einen anderen, und er war nicht ich. Drei Hurras für Dexters Verstand.
    Aber er ähnelte mir sehr. Vielleicht ein paar Zentimeter größer, mit breiteren Schultern und größerem Brustkorb, als hätte er häufig Gewichte gestemmt. Das, in Kombination mit der Blässe seiner Haut, brachte mich auf den Gedanken, dass er bis vor kurzem im Gefängnis gewesen sein mochte. Hinter dieser Blässe war sein Gesicht dem meinen jedoch sehr ähnlich; dieselbe Nase, dieselben Wangenknochen, der gleiche Ausdruck in den Augen, der besagte, dass das Licht an war, aber niemand zu Hause. Selbst seine Haare waren genauso gewellt.
    Er sah nicht wirklich aus wie ich, aber sehr ähnlich.
    »Ja«, sagte er. »Beim ersten Mal ist es ein kleiner Schock, nicht wahr?«
    »Nur ein kleiner«,
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