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Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder
Autoren: Jeff Lindsay
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auszusprechen. Du hast Biney gesagt.« Er tätschelte meine Hand. »Das ist in Ordnung. Es ist schön, einen Spitznamen zu haben.«
    Er hielt inne, sein Gesicht lächelte, aber sein Blick verharrte auf meinem Gesicht. »Kleiner Bruder.«
    Ich setzte mich hin. Er setzte sich neben mich.
    »Was …?« Mehr brachte ich nicht heraus.
    »Bruder«, wiederholte er. »Irische Zwillinge. Du bist nur ein Jahr nach mir zur Welt gekommen. Unsere Mutter war recht unvorsichtig.«
    Sein Gesicht verzog sich zu einem irgendwie grauenhaften, sehr glücklichen Lächeln. »In mehr als einer Hinsicht«, sagte er.
    Ich versuchte zu schlucken. Es ging nicht. Er – Brian – mein Bruder fuhr fort.
    »Einiges kann ich nur vermuten«, sagte er. »Aber ich hatte ziemlich viel freie Zeit, und als man mich ermutigte, einen Beruf zu erlernen, tat ich es. Ich wurde sehr gut darin, Dinge mit dem Computer herauszufinden. Ich entdeckte die alten Polizeiakten. Die liebe Mami hing mit einer ziemlich üblen Truppe rum. Aus dem Importgeschäft, genau wie ich. Natürlich waren ihre Waren ein wenig sensibler.« Er langte in einen Karton hinter sich und zog eine Hand voll Mützen heraus, auf die ein springender Panter gedruckt war. »Meine Waren werden in Taiwan produziert. Ihre stammten aus Kolumbien. Ich nehme an, dass Mami mit einigen Freunden versuchte, ein kleines unabhängiges Geschäft mit Gütern aufzuziehen, die genau genommen nicht ihr gehörten, und dass ihre Geschäftspartner nicht glücklich über diesen Unternehmungsgeist waren und beschlossen, sie zu entmutigen.«
    Er legte die Mützen sorgsam in den Karton zurück, und ich spürte, wie er mich ansah, aber ich konnte nicht einmal den Kopf drehen. Nach einem Moment schaute er weg.
    »Sie haben uns hier gefunden«, sagte er. »Direkt hier.«
    Seine Hand strich über den Boden und berührte genau die Stelle, wo das kleine Nicht-ich vor langen Jahren in jenem anderen Container gesessen hatte. »Zweieinhalb Tage später. In einem ein Zoll tiefen Blutsee, am Boden klebend.« Seine Stimme klang rau, schauderhaft; er sprach dieses furchtbare Wort, Blut, so aus, wie ich es ausgesprochen hätte, herablassend und voller Verachtung. »Den Polizeiberichten zufolge waren außerdem mehrere Männer hier. Vermutlich drei oder vier. Der eine oder andere davon könnte unser Vater gewesen sein. Natürlich hatte die Kettensäge die Identifikation erschwert. Aber sie waren ziemlich sicher, dass es nur eine Frau gewesen war. Unsere liebe alte Mutter. Du warst drei Jahre alt. Ich war vier.«
    »Aber«, sagte ich. Etwas anderes brachte ich nicht heraus.
    »Es ist wahr«, versicherte mir Brian. »Und du warst auch noch sehr schwer zu finden. In diesem Staat stellen sie sich mit Adoptionsunterlagen wirklich an. Aber ich habe dich gefunden, kleiner Bruder. Das habe ich, nicht wahr?« Wieder tätschelte er meine Hand, eine merkwürdige Geste, die mir nie zuvor ein anderer entgegengebracht hatte.
    Natürlich hatte ich auch noch nie zuvor einen leiblichen Bruder getroffen. Vielleicht war Handtätscheln etwas, was ich mit ihm üben sollte. Oder mit Deborah. Mir wurde mit leiser Sorge bewusst, dass ich Deborah vollkommen vergessen hatte.
    Ich schaute zu ihr hinüber, knapp fünf Meter entfernt, ordentlich an Ort und Stelle festgebunden.
    »Es geht ihr gut«, bemerkte mein Bruder. »Ich wollte nicht ohne dich anfangen.«
    Es scheint etwas seltsam für meine erste zusammenhängende Frage, aber ich erkundigte mich: »Woher wusstest du, dass ich wollen würde?« Was vielleicht so klang, als würde ich wirklich wollen – natürlich wollte ich Deborah nicht wirklich erforschen. Gewiss nicht. Und doch, hier war mein großer Bruder, wollte spielen, mit Sicherheit eine seltene Gelegenheit. Mehr, weit mehr als unsere verstorbene Mutter verband uns die Tatsache, dass er wie ich war. »Du konntest es nicht wissen«, sagte ich, wobei ich unsicherer klang, als ich jemals für möglich gehalten hätte.
    »Ich wusste es nicht«, antwortete er. »Aber ich habe die Chance für ziemlich groß gehalten. Uns beiden ist dasselbe zugestoßen.« Sein Lächeln wurde breiter, und er hob den Zeigefinger. »Das traumatische Ereignis – kennst du den Begriff? Hast du über Ungeheuer wie uns gelesen?«
    »Ja«, erwiderte ich. »Aber Harry, mein Adoptivvater, wollte mir niemals erzählen, was wirklich geschehen ist.«
    Brian wies mit der Hand auf die Inneneinrichtung des kleinen Containers. »Das ist geschehen, kleiner Bruder. Die Kettensäge, die
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