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Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder
Autoren: Jeff Lindsay
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NÄCHTEN hatte ich immer Glück. Ich hatte den Mann nicht gesehen, keine Ahnung gehabt, dass er dort war. Aber er hätte mich gesehen. Wenn ich nicht Glück gehabt hätte.
    Ich holte tief Luft. Atmete langsam und ruhig wieder aus, eiskalt. Es war nur eine Kleinigkeit. Ansonsten hatte ich nichts übersehen. Ich hatte es trotzdem richtig gemacht, so, wie es gemacht werden musste. Es würde richtig sein.
    Jetzt.
    Vater Donovan war wieder auf dem Weg zu seinem Auto. Einmal drehte er sich um und rief etwas. Der Hausmeister winkte vom Eingang des Waisenhauses, drückte dann seine Zigarette aus und verschwand im Gebäude. Weg.
    Glück. Wieder Glück.
    Vater Donovan kramte nach seinen Schlüsseln, schloss die Fahrertür auf und stieg ein. Ich hörte, wie er den Schlüssel hineinsteckte. Hörte den Motor anspringen.
    Und dann. JETZT.
    Ich richtete mich auf dem Rücksitz auf und ließ die Schlinge um seinen Hals gleiten. Eine rasche, geschmeidige, anmutige Drehung, und die Windungen einer reißfesten Angelschnur lagen eng an. Er zuckte einmal panisch zusammen, und das war es.
    »Du gehörst jetzt mir«, erklärte ich ihm, und er erstarrte so tadellos und vollkommen, als hätte er geübt, fast als hätte er die andere Stimme in mir vernommen, den lachenden Beobachter in meinem Inneren.
    »Tu genau das, was ich dir sage«, befahl ich.
    Er keuchte kurz auf, und sein Blick irrte zum Rückspiegel. Mein Gesicht war dort, wartete auf ihn, eingehüllt in die weiße Seidenmaske, die nur meine Augen zeigte.
    »Verstehst du mich?«, fragte ich. Die Seide der Maske umspielte meine Lippen, während ich sprach.
    Vater Donovan sagte nichts, starrte auf meine Augen.
    Ich zog die Schlinge enger.
    »Verstehst du mich?«, wiederholte ich etwas leiser.
    Dieses Mal nickte er. Seine Hand flatterte zur Schlinge, nicht sicher, was geschehen würde, wenn er versuchte, sie zu lockern. Sein Gesicht verfärbte sich dunkelrot.
    Ich lockerte die Schlinge. »Sei artig«, sagte ich. »Dann lebst du länger.«
    Er atmete tief ein. Ich konnte die Luft in seiner Kehle rasseln hören. Er hustete und holte wieder Luft. Aber er blieb ruhig sitzen und machte keinen Fluchtversuch.
    Das war sehr gut.
    Wir fuhren. Vater Donovan folgte meinen Anweisungen, keine Tricks, kein Zögern. Wir fuhren nach Süden durch Florida City und nahmen die Card Sound Road.
    Ich konnte erkennen, wie nervös ihn diese Straße machte, aber er widersprach nicht. Er versuchte nicht mit mir zu reden. Er ließ beide Hände am Steuer, bleich und so verkrampft, dass die Knöchel weiß hervortraten. Das war ebenfalls sehr gut.
    Wir fuhren weitere fünf Minuten in Richtung Süden, ohne einen Laut, bis auf das Singen der Reifen und den Wind und den großartigen Mond über uns, der seine machtvolle Musik in meinen Adern erschallen ließ und dem aufmerksamen BEOBACHTER, der leise im harten Pulsschlag der Nacht lachte.
    »Bieg hier ab«, sagte ich schließlich.
    Der Blick des Priesters flog zum Rückspiegel, wo er meine Augen fand. Die Panik versuchte, sich ihren Weg hinauszukrallen, sein Gesicht hinab, in seinen Mund, um zu schreien, doch …
    »Bieg ab!«, befahl ich, und er bog ab. Er sank in sich zusammen, als ob er dies die ganze Zeit erwartet, schon immer damit gerechnet hätte, und er bog ab.
    Der schmale Feldweg war kaum zu erkennen. Man musste schon wissen, dass er da war. Und ich wusste es. Ich war bereits hier gewesen. Der zweieinhalb Meilen lange Weg schlängelte sich durch hohes Gras, knickte dreimal ab, führte zwischen Bäumen hindurch, entlang eines kleinen Kanals tief in den Sumpf auf eine Lichtung.
    Vor fünfzig Jahren hatte jemand dort ein Haus gebaut.
    Ein Großteil davon war immer noch da. Es war ziemlich groß. Drei Zimmer, die Hälfte des Dachs noch vorhanden, der Ort seit vielen Jahren völlig verlassen.
    Abgesehen vom alten Gemüsegarten an der Seite. Dort gab es Anzeichen dafür, dass jemand vor sehr kurzer Zeit gegraben hatte.
    »Halt den Wagen an«, sagte ich, als die Scheinwerfer das brüchige Haus erfassten.
    Vater Donovan gehorchte ruckartig. Die Angst hatte ihn überwältigt, Verstand und Glieder waren vollkommen erstarrt.
    »Stell den Motor ab«, befahl ich ihm, und er tat es.
    Plötzlich war es sehr still.
    Ein kleines Etwas tschilpte in den Bäumen. Der Wind strich über das Gras. Und dann wieder Stille, ein so tiefes Schweigen, dass es beinah das Dröhnen der nächtlichen Musik erstickte, die in meinem geheimen Selbst hämmerte.
    »Steig aus«, sagte ich.
    Vater
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