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Des Rajahs Diamant

Titel: Des Rajahs Diamant
Autoren: Robert Louis Stevenson
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Überlegung unfähig und rannte nur um so schneller die Gasse hinauf.
    Offenbar war Karl nach dem Ton seiner Stimme und den Ausdrücken, die er hinter dem Sekretär herschleuderte, außer sich vor Wut. Auch er lief aus Leibeskräften, aber trotz allem Bemühen, die natürlichen Vorteile waren nicht auf seiner Seite, und seine Rufe wie das Aufschlagen seines lahmen Fußes auf die Steinfliesen verloren sich immer mehr in der Ferne.
    Harrys Hoffnungen belebten sich aufs neue. Die Straße war steil und eng, aber sehr wenig belebt; auf beiden Seiten waren von Laubwerk überhangene Gartenmauern,und, soweit der Flüchtling ausschauen konnte, bemerkte er weder ein lebendes Geschöpf noch eine offene Tür. Die Vorsehung setzte offenbar den Verfolgungen ein Ziel und bot ihm nun ein offenes Feld zur Flucht.
    Aber ach, als er sich einer Gartentür gegenüber befand, öffnete sich diese gerade von innen, und er sah drinnen auf einem Gartenweg die Gestalt eines Fleischerburschen, der eine Mulde unterm Arme trug. Kaum hatte ihn Harry wahrgenommen, so befand er sich schon ein paar Schritte weiter auf der andern Seite. Aber der Bursche hatte ihn doch bemerkt; er war natürlich sehr erstaunt, einen Gentleman sich mit so unziemlicher Eile bewegen zu sehen, so trat er in die Gasse und forderte Harry in spöttischen Worten zu größerer Eile auf.
    Das Erscheinen dieses jungen Menschen brachte Karl Pendragon auf einen neuen Gedanken, und er schrie, obwohl ihm jetzt der Atem fast ganz ausgegangen war, mit abgebrochener Stimme:
    »Haltet den Dieb!«
    Sofort nahm der Fleischerbursche den Ruf auf und machte sich ebenfalls an die Verfolgung.
    Das war ein bitterer Augenblick für den gehetzten Sekretär. Allerdings beflügelte die Angst seinen Fuß noch mehr und ließ den Zwischenraum zwischen ihm und den Verfolgern beständig wachsen. Aber er war sich nur zu wohl bewußt, bald am Ende seiner Kräfte angelangt zu sein, und sollte ihm jemand entgegenkommen, so mußte seine Lage eine verzweifelte werden.
    Ich muß ein Versteck finden, dachte er, und das in den nächsten Sekunden; sonst ist alles aus mit mir auf dieser Welt.
    Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf geschossen, so machte die Gasse plötzlich eine Wendung, und er war vor den Augen seiner Feinde verborgen. Es gibt Umstände, wo auch der Energieloseste sich mit Kraft und Entschiedenheit bewegen lernt, wo der Vorsichtigste sein Zaudern aufgibt und tollkühne Entschlüsse faßt. Für Harry war ein solcher Augenblick eingetreten, und die ihn am besten kannten, wären am meisten über die Kühnheit des jungen Mannes erstaunt gewesen. Er stand still, warf die Putzschachtel über die Gartenmauer, schwang sich mit unglaublicher Behendigkeit hinauf, faßte den Mauerkranz mit den Händen und purzelte kopfüber in den Garten.
    Als er im nächsten Augenblick zu sich kam, lag er in niedrigem Rosengebüsch. Seine Hände waren zerschnitten und blutig, denn man hatte die Mauer gegen einen solchen Sturmangriff durch eine reiche Spende von Glasscherben zu schützen gesucht; er empfand allgemeinen Gliederschmerz, und der Kopf war ihm ganz benommen. Vor sich bemerkte er hinter einem ausnehmend wohlgepflegten und mit köstlich duftenden Blumen besetzten Garten die Hinterseite eines Hauses. Es war ziemlich groß und diente offenbar Wohnzwecken, sah aber in sonderbarem Gegensatz zum Garten baufällig, schlecht gehalten und schäbig aus. Sonst begrenzte nach allen Seiten die Gartenmauer den Blick.
    Dies waren nur rein mechanische Wahrnehmungen, denn er vermochte noch nicht, seine Gedanken zu sammeln und aus dem Wahrgenommenen vernünftige Schlüsse zu ziehen, und als er auf dem Kieswege sich Schritte nähern hörte, wandte er zwar seine Augen nach jener Richtung, dachte aber weder an Verteidigung noch an Flucht.
    Der Ankömmling war ein großer, plumper und sehr schmutzig aussehender Wann in Gärtnertracht und mit einer Gießkanne in der linken Hand. Ein Mensch mit klaren Sinnen würde beim Anblick dieses Riesen mit den düsteren, unheimlichen Augen Beunruhigung empfunden haben. Aber Harry war von seinem Falle zu sehr betäubt, um Entsetzen fühlen zu können. Wenn er auch seine Augen nicht von dem Gärtner abwandte, so verhielt er sich doch völlig willenlos, als jener näher kam, ihn an der Schulter packte und auf die Füße stellte.
    Einen Augenblick starrten sie einander in die Augen, Harry wie gebannt und der Mann voll Wut und mit grausamem, spöttischem Humor.
    »Wer sind Sie?« fragte er
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