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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
Autoren: Umberto Eco
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Wörter zu gebrauchen. Der Student wollte wissen, ob ihm die Lektüre bei einer bestimmten Arbeit helfen würde, die er gerade machte. Ich antwortete, sie würde ihm auch helfen, wenn er Gebrauchtwagenhändler wäre. Er würde einfach einen Menschen kennenlernen, den kennenzulernen sich lohne. Dazu verhilft einem die Lektüre der Klassiker.
    1993
Die erste Pflicht der Intellektuellen: zu schweigen, wenn sie zu nichts nützen
    Entschuldigung für das abgenutzte Zitat: »Glücklich das Land, das keine Helden braucht«, aber Helden sind Leute, denen die Mythologien übermenschliche Kräfte zuweisen, damit sie tun, was gewöhnliche Menschen nicht können. Wer sie zu Hilfe ruft, läßt immer ein Ohnmachtssyndrom erkennen, der Glaube, daß es sie gibt, ist eine Entschuldigung für das eigene Nichtstun. Wenn in einem Land die Eisenbahn nicht funktioniert, muß man nicht einen rettenden Helden anrufen, sondern sich fragen, ob die Schuld bei den Bahnhofsvorstehern, beim Generaldirektor oder bei anderen liegt. Eine der pathetischsten Attitüden unseres Jahrhunderts besteht darin (schuld daran ist, glaube ich, Julien Benda), in jeder gesellschaftlichen oder politischen Krise über den Verrat der Intellektuellen zu klagen oder sie zu Hilfe zu rufen, auf daß sie alle schwierigen Probleme lösen. Vor Jahren hat Jacques Attali einmal in Paris einen Riesenkongreß über das Thema »Die Intellektuellen und die Krisen unseres Jahrhunderts« veranstaltet; mein Beitrag beschränkte sich auf wenige Worte: »Beachten Sie, daß die Intellektuellen die Krisen von Berufs wegen produzieren, aber nicht lösen.« Krisen zu produzieren ist keine schlechte Sache. Wissenschaftler, Philosophen und Schriftsteller melden sich zu Wort, um zu sagen: »Ihr habt geglaubt, die Dinge verhielten sich soundso, aber ihr habt euch in einer Illusion gewiegt, denn sie sind sehr viel komplexer.« So taten es die Intellektuellen, die wir in der Schule studierten, ob sie nun Parmenides, Einstein, Kant, Darwin, Machiavelli oder Joyce hießen.
    Nimmt man sie für das, was sie uns zu sagen haben (wenn sie es können), dann sind die Intellektuellen nützlich für die Gesellschaft, aber nur langfristig. Kurzfristig können sie bloß Experten des Wortes und der Recherche sein, Leute, die eine Schule verwalten, die das Pressebüro einer Partei oder eines Unternehmens leiten, oder auch Leute, die zur Revolution blasen, womit sie aber nicht ihre spezifische Funktion erfüllen. Zu sagen, daß sie in langen Zeiträumen arbeiten, heißt, daß sie ihre Funktion vor und nach den Ereignissen ausüben, nie aber während diese geschehen. Als die Dampflokomotive aufkam, konnten Volkswirtschaftler oder Geographen einen Alarmruf über die Veränderung des Landverkehrs ausstoßen und die voraussichtlichen Vor- und Nachteile dieser Veränderung analysieren; oder sie konnten hundert Jahre später eine Untersuchung durchführen, um zu zeigen, wie gründlich jene Erfindung unser Leben umgewälzt hat. Aber in dem Moment, als die Postkutschenhersteller ihre Produktion einstellen mußten oder die ersten Lokomotiven unterwegs stehenblieben, hatten die Intellektuellen nichts zu sagen, jedenfalls sehr viel weniger als ein Postillon oder ein Lokführer, und wer an ihr geflügeltes Wort appelliert hätte, wäre nicht besser gewesen als einer, der Platon vorwirft, daß er kein Heilmittel gegen die Gastritis erfunden hat.
    Wenn das Haus brennt, kann der Intellektuelle nur versuchen, sich wie ein normaler vernünftiger Mensch zu verhalten, wie jeder andere auch. Wenn er meint, er habe eine besondere Mission, bildet er sich etwas ein, und wer ihn anruft, ist ein Hysteriker, der die Telefonnummer der Feuerwehr vergessen hat.
    Ein gut informierter Soziologe konnte vor dreißig Jahren warnend darauf hinweisen, daß die Wohlstandsentwicklung, begleitet vom verzögerten Eintritt der Jugendlichen in die Arbeitswelt, Formen von juveniler Verwirrung hervorrufen werde (Drogenmißbrauch, Steinewerfen von Brücken etc.), und in diesem Sinne hätte er Ratschläge geben können, wie dem Phänomen präventiv zu begegnen sei. Aber in dem Moment, in dem Jugendliche Steine von Brücken werfen, ist das einzige, was man von einem Intellektuellen erwarten kann, daß er nicht ebenfalls welche wirft. Wenn er einen geharnischten Aufruf gegen das Steinewerfen von Brücken verfaßt, verhält er sich nicht als Intellektueller, sondern nutzt einfach eine öffentliche Empörung, um sich in ein gutes Licht zu stellen und dazu
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