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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
Autoren: Umberto Eco
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»Aber wann, Meister, muß ich anfangen, so zu denken?« Ich antwortete ihm, damit dürfe man nicht zu früh anfangen, denn einer, der mit zwanzig oder auch mit dreißig denkt, daß alle anderen Blödmänner sind, ist ein Blödmann und wird es niemals zur höheren Weisheit bringen. Man muß zunächst denken, daß alle anderen besser sind als man selbst, dann muß man sich langsam entwickeln, die ersten schwachen Zweifel muß man gegen vierzig haben, das Umdenken zwischen fünfzig und sechzig beginnen und zur Gewißheit gelangen, während man auf die Hundert zugeht, immer bereit, das Konto ausgeglichen zu schließen, sobald das Telegramm mit der Einberufung kommt.
    Sich davon zu überzeugen, daß alle anderen, die uns umgeben (fünf Milliarden), Trottel und Blödmänner sind, ist das Ergebnis einer feinen und weitsichtigen Kunst, es steht nicht zur Disposition des erstbesten Ladenschwengels mit Ring am Ohr (oder in der Nase). Es erfordert fleißiges Studium und Geduld. Man darf es nicht überstürzt herbeizwingen, man muß es sachte erreichen, genau zur rechten Zeit, um in Heiterkeit zu sterben. Am Tag davor muß man noch denken, daß irgendwer, den man liebt und bewundert, nun gerade kein Blödmann ist. Die wahre Weisheit besteht darin, genau im richtigen Augenblick (nicht vorher) anzuerkennen, daß auch er ein Trottel ist. Erst dann kann man sterben.
    »Infolgedessen«, schloß ich, »besteht die große Kunst darin, Schritt für Schritt das allgemeine Denken zu analysieren, die Wechsel der Moden zu beobachten, Tag für Tag die Massenmedien zu sichten, die Erklärungen der selbstsicheren Künstler, die Sprüche der abgehobenen Politiker, die Philosopheme der apokalyptischen Kritiker, die Aphorismen der charismatischen Helden zu verfolgen, die Theorien, die Vorschläge, die Appelle, die Bilder, die Er-
    * Aus Gründen der politischen Korrektheit sei angemerkt, daß der letzte Trottel auch eine Sie sein kann.
    scheinungen zu studieren. Erst dann, ganz am Ende, wirst du die überwältigende Offenbarung haben, daß alle anderen Blödmänner sind. An diesem Punkt wirst du bereit sein, dem Tod zu begegnen.
    Aber bis zum Ende wirst du dich gegen diese unerträgliche Offenbarung wehren müssen, wirst dich darauf versteifen müssen zu denken, daß irgend jemand doch noch vernünftige Dinge sagt, daß ein bestimmtes Buch besser als andere ist, daß ein bestimmter Volkstribun wirklich das Gemeinwohl im Sinn hat. Es ist ganz natürlich, es ist menschlich, es ist das Kennzeichen unserer Spezies, sich gegen die Überzeugung zu wehren, daß alle anderen unterschieds- und ausnahmslos Trottel sind, wozu lohnte es sich sonst zu leben? Doch wenn du es ganz am Ende weißt, dann wirst du begriffen haben, wozu es sich lohnt (ja, mehr noch, warum es großartig ist) zu sterben.«
    Da sagte Kriton zu mir: »Meister, ich möchte keine vorschnellen Schlüsse ziehen, aber ich habe den Verdacht, daß Sie ein Blödmann sind.«
    »Siehst du«, erwiderte ich, »du bist schon auf dem richtigen Weg.«
    1997
    Inhalt
    I. Die dunkle Seite der Galaxie Zwischen Rassismus, Krieg und Political Correctness
    Migrationen 11 Krieg, Gewalt und Gerechtigkeit 14 Exil, Rushdie und das globale Dorf 17 Was kostet der Zusammenbruch eines Imperiums? 20 Hinrichtung live, zum Abendessen 23 New York, New York, what a beautiful town! 26 Politisch korrekt oder intolerant? 29 Revision im Namen des Common Sense:
    Der Prozeß Sofri muß neu aufgerollt werden 33 Kosovo 46
    II. Geliebte Gestade
    Italienische Binnenansichten
    Wer hat für Andreotti gestimmt? 56 Wozu sich ums Fernsehen prügeln? 60 Die verschwimmenden Ränder der Resistenza 63 Meine Schulaufsätze über den Duce 66 Eine TV-Show als Spiegel des Landes 69 Wer waren diese Kelten? 74 Bossi ist kein Gallier wie ich 78 Fred Astaire und Ginger Rogers haben die italienische Politik erfunden 82 Die achtziger Jahre waren grandios 86
    III. Erhabener Spiegel
    DER WAHREN SPRÜCHE Verhaltens- und Redeweisen, Manien und Moden
    Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß 91 In welchem Sinne Fußball eine sexuelle Perversion ist 95 Die Zigarre als Botschaft 99
    Warum gibt es Demonstrationen gegen Sex mit Kindern? 102
    Grundzüge einer Stadtpsychologie: Dresden 106 Bücher zum Nachschlagen und Bücher zum Lesen 110 Bücherlesen mit den Fingerkuppen 113 Keine Angst vor dem Hypertext 115 Ein neuer Heiliger Krieg: Mac gegen DOS 119 Chronik einer sündigen Nacht 121 Der Grimmdarm von Mr. X. 125 Haben wir wirklich so viel
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