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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel
Autoren: Anita Augustin
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mir, wie es wirklich war.«
    Â»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Die Wirklichkeit ist eher ereignisarm.«
    Â»Frau Block, wenn Sie nicht koope…«
    Â»Jaja, dann darf ich nicht mehr rauchen, alles klar.«
    Er klappt das Notizbuch auf.

2
    Mein erster Tag in Rente hat damit begonnen, dass ich nicht aufgewacht bin. Wer nicht schläft, muss nicht aufwachen, wer die ganze Nacht rauchend im Bett liegt, braucht keinen Radiowecker mit Digitalanzeige, weil er immer ganz genau weiß, wie spät es ist.
    Halbvoller Aschenbecher: ein Uhr. Voller Aschenbecher: drei Uhr. Überquellender Aschenbecher: Guten Morgen!
    Habe ich erwähnt, dass ich gar keinen Aschenbecher habe, sondern eine Salatschüssel?
    Ich liege im Bett und bin wach, seit ich mich hingelegt habe. Der erste Tag im letzten Abschnitt meines Lebens, und alles ist wie immer. Ziemlich enttäuschend, wenn Sie mich fragen. Und dann fällt mir der Bus ein.
    Bei der Vorstellung, dass ich heute nicht mit den anderen Matschgesichtern im Bus sitzen werde, bekomme ich so etwas wie gute Laune. Eine Ahnung davon. Zur Feier des Tages bleibe ich einfach liegen und zünde mir eine neue Zigarette an der alten an. Draußen wird es langsam hell, der Regen wechselt von stark zu strömend, die Salatschüssel auf dem Nachttisch sagt mir, dass der Bus zum Theater in zehn Minuten losfährt. Die Erfahrung sagt mir, dass er wie immer voll ist.
    Voller Frauen.
    Die Putzkolonne, die Ankleiderinnen, die Garderobierinnen, das Kantinenpersonal, die Souffleusen, die Kassenfrauen. Alle, die auf der Gehaltsliste ganz unten stehen und sich kein Auto leisten können. Alle, die es nicht geschafft haben und nie schaffen werden, weil die Aufstiegschancen einer, sagen wir, altgedienten Souffleuse zur, sagen wir, dynamischen Pressesprecherin eher gering sind. Schon deswegen, weil Souffleusen ihr Leben lang flüstern oder raunen und es noch keine Pressesprecherin mit Flüstern oder Raunen weit gebracht hat.
    Ich liege im Bett.
    Ich rauche.
    Ich bin im Ruhestand.
    Aber in Gedanken, da bin ich ganz bei euch, Mädels!
    Ziemlich nett von mir, finde ich, bei dem Wetter. Und wisst ihr was, Mädels? Ihr habt es verdient. Weil wir sind alle Schwestern, wir einfachen berufstätigen Frauen, und wir stehen jeden Morgen wie ein Mann an den Bushaltestellen dieser Welt, Schulter an Schulter, Seite an Seite.
    Schon spannend, so ein Leben als einfache berufstätige Frau. Fast so spannend wie das Leben als Rentnerin. Von welchem wollen Sie mehr hören?
    Doktor Klupp kritzelt etwas in sein Notizbuch. Wahrscheinlich malt er gerade ein kleines Bienchen, weil ich so brav kooperiere.
    Â»Solange Sie bei der Wahrheit bleiben, Frau Block, ist mir jede Erinnerung aus Ihrem Leben lieb.«
    Das ist lieb von Ihnen, Herr Lehrer.
    Â»Na dann«, sage ich und deute eine hüpfende Bewegung an, »dann machen wir jetzt einen kleinen sportlichen Zeitsprung. Raus aus dem Faulbett der Rente und rein ins Arbeitsleben. Kapitelüberschrift: Ein ganz normaler Tag im Leben einer einfachen berufstätigen Frau.«
    Es ist kurz vor sieben, wir stehen Schulter an Schulter auf dem Großparkplatz eines Einkaufszentrums und warten auf den Bus zum Theater.
    Der Bus kommt, es ist immer ein anderer, jeden Morgen, weil das Reiseunternehmen Mango Tours jeden Morgen einen anderen schickt. Alle Busfahrer von Mango Tours sehen gleich aus. Fahles Gesicht, entzündete Augen. Seit zwanzig Stunden unterwegs, seit vierundzwanzig, seit achtundvierzig. Sie sehen immer gleich aus, nur die Frisur wechselt.
    Heute hat der Busfahrer von Mango Tours schütteres blondes Haar, das ihm vorne über die entzündeten Augen fällt. Er fährt im Schritttempo über den Parkplatz auf uns zu, die riesigen Scheibenwischer bewegen sich hin und her wie hospitalisierte Zootiere, noch dreißig Meter, noch zwanzig, ich sehe das Haar, ich sehe die Augen, auf dem Schild hinter der Windschutzscheibe steht: Neapel.
    Gestern war es: Rom.
    Vorgestern: Florenz.
    Wenn es nach Mango Tours geht, sind wir seit drei Tagen immer weiter Richtung Süden unterwegs.
    Schöne Idee.
    Während mir der Regen hinten in den Kragen und vorne übers Gesicht läuft, beschließe ich, mich bei Gelegenheit in einem ganz persönlichen Dankesschreiben bei Mango Tours für die schöne Idee zu bedanken. Postskriptum: Und danke auch für die vielen schönen Souvenirs zu der schönen Idee.
    Ich finde immer
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