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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel
Autoren: Anita Augustin
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in Schlaflabors sind Ratten und Menschen. Millionen von Hirnströmen fließen jede Nacht durch irgendwelche Maschinen, die alles messen. Betawellen, Deltawellen, Ebbe und Flut. Tausende Männer und Frauen mit Schlafstörungen liegen verkabelt in ihren Betten, Tausende verkabelte Ratten in ihren Käfigen. Alle schlafen, und keiner weiß, warum.
    Es ist ein Geheimnis.
    Es gibt Spekulationen.
    Wir schlafen, weil wir uns im Schlaf regenerieren.
    Wir schlafen, weil wir im Schlaf Informationen verarbeiten.
    Kann sein, vielleicht, höchstwahrscheinlich.
    Tatsache ist, dass Ratten nach zwei Wochen tot sind, wenn man sie nicht schlafen lässt. Sie bekommen ihre Körpertemperatur nicht mehr auf die Reihe und sterben an Überhitzung. Wenn man ihnen zu Beginn des Experiments ein paar Brandwunden verpasst, sterben sie mit offenen Wunden. Die Wunden heilen nicht ohne Schlaf.
    Der Schlaf ist das eine, das andere ist der Traum.
    Ratten, Schweine, Menschen, alle höher entwickelten Tiere träumen. Sogar Enten träumen und Hühner, die eine oder andere Fledermaus soll auch schon dabei erwischt worden sein, man kann das messen. Der Traumschlaf in der REM -Phase hat ein anderes Wellenmuster als der Tiefschlaf. Die Betawellen zum Beispiel sehen im Traumschlaf genauso aus wie im Wachzustand, und das ist schon bemerkenswert: Du bist so gut wie wach, wenn du träumst.
    Wenn du ein ganz besonders hochentwickeltes Säugetier bist, zum Beispiel ein Delphin, dann schläfst du überhaupt nie, ohne wach zu sein. Halbhirnschlaf. Du ziehst im Wasser deine Kreise, deine linke Hirnhälfte schläft, die rechte ist wach, nach ein bis zwei Stunden erwacht die linke und löst die rechte ab. Genaugenommen schläfst du nie, wenn du ein Delphin bist. Chronische Asomnie. Sowas macht depressiv mit der Zeit, deswegen sehen Delphine auch immer irgendwie traurig aus.
    Antidepressiva, sedierend.
    Analgetika, sedierend.
    Neuroleptika, sedierend, und Rohypnol natürlich, kiloweise, mein Gott, es ist ja nicht so, dass ich es nicht versucht hätte. Ich habe alles versucht, aber das ist lange her. Vierzig Jahre würde ich sagen, vielleicht auch mehr, ich kann mich nicht erinnern. Auf jeden Fall hat alles nichts genützt, und irgendwann war mir das dann zu blöd mit den Ärzten und den Medikamenten.
    Haben Sie Einschlafstörungen?
    Nein, weil ich nicht einschlafe.
    Haben Sie Durchschlafstörungen?
    Nein, weil ich nicht schlafe.
    Träumen Sie viel?
    Kein Schlaf, kein Traum.
    Seit vierzig Jahren passiert immer dasselbe, wenn ich die Augen zumache: die Flecken, das Knistern oder Knirschen, der brennende Ozean, der Schmerz.
    Kann ja kein Mensch schlafen mit diesem Wahnsinn unter seinen Lidern!
    Unmöglich?
    Ja, das ist natürlich unmöglich, vierzig Jahre lang nicht zu schlafen, und wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein. Viele Leute mit chronischer Asomnie glauben, dass sie nie schlafen, dabei schaffen sie es doch die eine oder andere Stunde. Und vielleicht schlafe ich ja, hin und wieder, ohne es zu merken, mit offenen Augen.
    Vielleicht bin ich eine Fruchtfliege.
    Vielleicht bin ich eine Ratte. Laborratte, sehr zählebig. Jemand hat mir vor vierzig Jahren ein paar Brandwunden verpasst und lässt mich nicht schlafen, jetzt wartet er seit vierzig Jahren darauf, dass ich sterbe, aber ich lebe. Mit offenen Wunden.
    Biographiearbeit.
    Arbeit an meinem verkackten Leben. Den Finger in die Wunden legen, mit beiden Händen im Dreck wühlen.
    Was soll ich morgen sagen zu diesem Doktor Klupp? Soll ich sagen: Herr Doktor, Sie müssen sich Ihre schönen Hände nicht schmutzig machen, es ist nämlich ganz einfach, ich bin ein Delphin. Ein trauriges Säugetier, das nie schläft. Immer müde, immer gerädert, man hält mir Reifen hin, ich springe durch die Reifen, manche davon brennen.
    Wir schlagen das Miststück nieder, hopp, sagt Karlotta, und ich springe.
    Wir machen das Miststück fertig, hopp, ich springe.
    Gewalt ist nur eine Art Zeitvertreib für Tiere wie mich, Herr Doktor, irgendwas müssen wir ja tun, wir Delphine, bis es endlich so weit ist. Bis der Moment endlich da ist, in dem wir einschlafen, mit beiden Hirnhälften. Und dann passiert etwas sehr Schönes mit uns: Wir vergessen.
    Wir vergessen zu schwimmen, wir vergessen zu atmen. Wir sinken langsam auf den Grund des Meeres oder des Beckens, in dem wir leben, und dort unten schlafen wir uns dann so richtig
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