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Der Zimmerspringbrunnen

Der Zimmerspringbrunnen

Titel: Der Zimmerspringbrunnen
Autoren: Jens Sparschuh
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Meine Augenlider wurden immer schwerer. Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Welt aus schmalen Sehschlitzen.
    Gegen Mitternacht, ein letzter Schub Reisender. Schwer zu entscheiden, ob An- oder Abreise. Außerdem – ich war nach diesem Tag auch schon hundemüde …
    Da – ein Paar! Die Frau hatte ich zwar nicht mehr genau erkennen können, sie war gerade aus dem Bahnhofsausgang verschwunden. Aber der Mann – der Mann hatte alle Anzeichen eines Hugelmannes! Zum Beispiel trug er Lodensachen!!!
    Ich rekelte mich hoch, kam schwer ins Gleichgewicht, stand dann aber, drückte Mario, der neben mir gesessen hatte, die Hundeleine in die Hand, »Schön lieb sein, Freitag, ich bin gleich wieder da«, stolperte den beiden hinterher, Ausgang Jebensstraße.
    Die Straße war leer.
    Links oder rechts? Ich ging nach rechts. Vielleicht waren sie schon um die Ecke. Ich beeilte mich. Ecke Hertzallee – wieder nichts. Das war auffällig. Sie mußten, falls ich ihnen auf der Spur war, ungewöhnlich schnell gegangen sein. Das roch nach Flucht! Sie hatten bemerkt, daß ich sie verfolgte …
    Hertzallee hoch … jetzt bedauerte ich, daß ich Freitag nicht bei mir hatte; aber ich durfte auch den Bahnhof nicht unbewacht lassen … Fasanenstraße. – Nichts.
    Das schnelle Laufen hatte mich erhitzt, die frostige Nachtluft mich abgekühlt und ernüchtert. Mir war heiß und kalt. Nüchtern versuchte ich nachzudenken: Was war los? Wie kam ich eigentlich dazu, Mitternacht auf dieser menschenleeren Straße, unter dieser gleichgültigen Laterne zu stehen? Wie kam ich überhaupt hierher?
    Ja, Hinrich, wo bist du denn gewesen die letzte Zeit?
    – Ich weiß nicht … Am Leben …
    Und jetzt bist du wieder unterwegs?
    – Ja. Zu meinem Leidwesen.
    Wohin?
    – Zu Julia.
    Und was willst du von ihr?
    – Ich muß mit ihr reden, ihr etwas sagen.
    Und was?
    – Das weiß ich nicht. Ich muß ihr sagen, daß ich das nicht weiß.
    Ach so. So ist das.
    Am Ende der Straße stoppte ein Geländer meinen Lauf. Ich stieg darüber. »Betreten bei Schnee u. Eis auf eigene Gefahr«, stand auf einem viereckigen Schild. Julia hätte sicher abgeraten … Ach, Julia, das ganze Leben geschieht auf eigene Gefahr!
    Stufen führten hinab. Gestrüpp, Gesträuch. Schwarz glänzte der Kanal. Ich drehte mich noch einmal um. Ein dunkler Vogel kam angeflattert. Die Schöße seines Mantels, Schwanzflügel, flatterten. Er rief meinen Namen. Aber ich ging weiter.
    Das Wasser klirrte. Es sprang auf unter meinem Schuh. Es stieg empor. Eine eisige Fontäne. Die staunenden Pfiffe der Wasserratten. Sei getrost, Julia, ich bin’s …
    Da packte es mich mit Macht am Kragen!
    Aus seinem Gepäckschließfach hatte Mario mir trockene Hosen, Unterhosen und Socken gegeben. Wir saßen nebeneinander, und ich mußte mir bibbernd sein Gezeter anhören: »Sonst geht es dir ›Danke‹, wat! Erst drehst du mir deine Töle an, und dann willste dir aus dem Staub machen. Nich mit mir, du!«
    »Hundesteuer ist bezahlt«, versuchte ich mich zu verteidigen. Ich zitterte. »Na prima«, sagte Mario und nickte wütend, »dann is ja allet prima!« –
    Am nächsten Morgen, es war der erste Weihnachtsfeiertag, wurde ich von Kaffeeduft wach … Mario hatte mir vom Kiosk einen Becher mitgebracht.
    Er fragte mich, ob ich wieder o.   k. sei. Die ganze Nacht über hätte ich irre phantasiert – von »Einsatzkräften« und »erhöhter Wachsamkeit«. Einmal sei der Satz gefallen »Jeder Fluchtversuch muß im Ansatz vereitelt werden!«; dann wieder, undeutlich, sei von der Abriegelung des gesamten Bahnhofs, ganz Westberlins die Rede gewesen, letzteres lallend –
    »Sag mal, Vertriebsleiter, kommst du vielleicht aus’m Knast?«
    »Nee«, sagte ich und fügte leise hinzu – »ich komme von drüben.«
    »Ach so.« Mario nickte. Er trank seinen Kaffee aus. Dann stand er auf. Er mußte los.
    Vor Jahren, so hatte er mir beim Frühstück erzählt, war er in Berlin »hängengeblieben«. Sein Geld verdiente er damit, die vor dem Bahnhof herumirrenden Autofahrer in freigewordene Parklücken einzuweisen, die Fahrer daran zu erinnern, ihre Parkscheiben richtig einzustellen (»Heute kontrollieren sie wieder!«), worauf er dann eine Mark oder zwei abkassierte, um sich sodann – wie ein Ordnungshüter, mit erhobenem Arm – dem nächsten der im Schrittempo heranrollenden Autos zuzuwenden.
    Auch ich hatte zu tun! Nach dem Fehlschlag vom Vorabend richteten sich all meine Hoffnungen auf diesen
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