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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis
Autoren: Ilsa J. Bick
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Augenbraue, dann mittig über das linke Augenlid und quer über die Wange bis zur Nasenspitze. Eine zweite grub einen Halbmond in seine rechte Wange. Eine dritte, tief eingekerbte, durchschnitt waagerecht sein Kinn wie ein zweiter Mund. Der Tränenkanal seineslinken Auges war beschädigt, deshalb weinte er ständig Krokodilstränen.
    »Inzwischen steht ja wohl zweifelsfrei fest, dass du die Tat begangen hast, junger Mann. Die Frage ist, wie wir jetzt damit umgehen.« Er tupfte sich das Auge mit einem gefalteten weißen Taschentuch und wandte dann seinen Wasserspeierkopf wieder Onkel Hank zu. Eisenmann war mindestens achtzig, und ich hatte ihn noch nie anders als mit Anzug, Weste und dicker goldener Uhrkette gesehen. Er ging niemals ohne seinen rötlichen Stock mit dem goldenen Wolfskopf als Knauf aus dem Haus. »Hör zu, Hank, der Junge ist nicht ganz richtig im Kopf, das weißt du so gut wie ich. Jeder weiß das. Und jetzt wird er auch noch gewalttätig, beschädigt fremdes Eigentum …«
    »Hallo?!«, unterbrach ich ihn, aber Onkel Hank hob die Hand, und da wusste ich, dass ich besser den Mund hielt.
    »Gewalttätig und morbid. « Eisenmann schlug meinen Geschichtshefter mit dem Gekritzel vom Vormittag auf. »Friedhöfe? Grabsteine? Das ist makaber, Hank. Das ist krank.«
    Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, dass ich auch nur einen einzigen Grabstein gemalt hatte – ich hatte meine Mutter gezeichnet. Doch tatsächlich waren lauter Grabsteine wie Zaunpfosten quer über das Blatt aufgereiht. Es waren aber keine gewöhnlichen Grabsteine, sondern sie waren paarweise angeordnet wie die Tafeln der Zehn Gebote. Auf keinem war ein Kreuz drauf. Im Hintergrund sah man drei Mausoleen mit dreieckigen Giebeln, wie auf den Friedhöfen in New Orleans. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, so etwas gezeich…
    Blut auf meinen Händen … die Pferde wiehern …
    Der Gedanke traf mich unvermittelt wie ein Blitz. Ich rang nach Luft. Was?
    Blut … nein, Papa, nein …
    Es war der Alptraum, der zurückkehrte, aber diesmal schlief ich nicht, sondern war wach. Wie …?
    Pass auf … Pass …
    Ich hielt mir den Kopf. Mein Puls wummerte in meinen Ohren. Das Raunen, das ich schon heute früh beim Aufwachen vernommen hatte, war wieder zu hören und schwoll an, wurde zum dumpfen Gebrüll aus tausend Kehlen. Nein, das waren nicht meine Gedanken, aber wer …
    »Christian?«, fragte Onkel Hank.
    »Ich erinnere mich an nichts.« Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich auf den Aufruhr in meinem Kopf: Haut ab, seid still, lasst mich in Ruhe, LASST MICH IN RUHE! Dann wiederholte ich viel zu laut: »Ich kann mich an nichts erinnern!«
    Eisenmann fing wieder an: »Hank, der Junge braucht dringend Hilfe. Sonst schießt er womöglich noch irgendwen über den Haufen, wie diese Typen in Columbine …«
    »Jetzt reicht’s aber.« Onkel Hank sprach leise, aber mit drohendem Unterton. »Christian ist mein Neffe. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ihr dreckiges Maul halten würden.«
    Eisenmann blieb die Spucke weg. Dann rief er empört: »Wie reden Sie denn mit mir? Ein Wort von mir und Sie sind die längste Zeit Sheriff gewesen!«
    Onkel Hanks Lippen wurden so schmal wie die Narbe auf Eisenmanns Kinn, aber er entgegnete nichts.
    »Allerdings!« Eisenmann nickte, als hätte Onkel Hank ihm zugestimmt. »Allerdings. Machen Sie sich darauf gefasst, dass ich Anzeige erstatte. Und ich habe keinerlei Hemmungen, den Jungen vor Gericht zu bringen!«
    »Es ist Christians erste Straftat.« Mir entging nicht, dass Onkel Hank sich mächtig überwinden musste. Er bettelte nicht offen, aber er war nah dran. »Ich kümmere mich darum, dass er professionelle Hilfe bekommt. Und den Schaden ersetzen wir Ihnen natürlich. Herrje, man hätte diese unselige Scheune längst abreißen sollen. Trotzdem, der alte Schuppen steht schon ewig leer. Sie wohnen ja nicht drin.«
    »Das ist meine Sache, Sheriff, und Eigentum bleibt Eigentum. Was die ›erste Straftat‹ angeht, darf ich Sie an Miss Stefancyzk erinnern …«
    »Die Frau hatte einen Nervenzusammenbruch. Christian hatte nichts damit zu tun.«
    »Glauben Sie das ruhig, wenn es Ihnen dann besser geht.« Mr Eisenmann griff nach seinem Stock und stemmte sich aus dem Sessel. »Sie wollen doch im April wiedergewählt werden, oder, Hank? Wir sehen uns dann vor Gericht.«
    + + +
    Als er weg war, wusste ich nicht, was ich sagen sollte, darum schwieg ich. Onkel Hank sagte auch nichts und
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