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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis
Autoren: Ilsa J. Bick
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was wohl passiert wäre, wenn ich ein bisschen früher den Mund aufgemacht hätte. Vielleicht wären dann gewisse Leute noch am Leben. Beweisen kann ich das nicht. Aber ich glaube es.
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    In die Schule ging ich an diesem Tag nicht mehr, aber Onkel Hank fuhr mich auch nicht nach Hause. Er war zu beschäftigt und ließ mich schließlich von einem seinerLeute heimbringen. Es war ein Neuer, den ich noch nicht kannte.
    »Was ist mit meinem Fahrrad?«, fragte ich auf dem Weg zum Streifenwagen. »Das steht noch an der Schule.«
    »Tut mir leid, Kleiner, aber ich habe meine Anweisungen«, lautete die Antwort.
    Damit erschöpfte sich unser Gespräch. Der Beamte blickte stur geradeaus, ich schaute aus dem Fenster. Als der Streifenwagen vorbeifuhr, drehten sich die Leute auf dem Bürgersteig um. Manche stießen sich an und zeigten auf mich oder sie nickten vielsagend und tuschelten miteinander.
    Auf einmal packte mich eine Scheißangst. Eisenmann behauptete, ich sei gestört – ja, ich würde womöglich zum Amokläufer. Hatte er etwa recht? Gestört … das war für mich jemand wie Renfield in Dracula. Das ist dieser Typ, der Fliegen isst, sich mit unsichtbaren Leuten unterhält und wirres Zeug brabbelt. Aber so war ich doch nicht! Okay, ich war ein bisschen sonderbar und die Leute sahen mich schief an oder verdrückten sich unter einem Vorwand, wenn ich zur Tür reinkam … aber das war nicht dasselbe.
    Oder doch?
    Ich dachte an das Raunen in meinem Kopf. Ging es so los, wenn man Stimmen hörte und schizophren wurde? Vielleicht hatte es mich ja doch erwischt …
    Zu Hause ging ich nicht hoch in mein Zimmer, weil ich viel zu aufgedreht war, um mich hinzusetzen. Ausnahmsweise hatte ich auch keine Lust zu zeichnen – oder ich hatte Schiss davor. Ich war unruhig und musste mich bewegen. Ich wanderte im Wohnzimmer herum wie ein Tiger im Käfig. Ichentdeckte meinen iPod und machte Musik an, aber schon nach fünf Minuten war ich genervt und legte den iPod wieder weg.
    So musste sich ein Gefangener fühlen, der Meile um Meile in seiner Zelle im Kreis latscht, jahrein, jahraus …
    Ich spürte einen Druck in der Brust, und mein Gesicht wurde so heiß, dass mir der Schweiß ausbrach. Dann kamen die Tränen. Ich stand mit zuckenden Schultern da, schniefte und schluchzte, ließ die Tränen laufen und das mitten im Wohnzimmer – das wir nur benutzen, wenn Besuch kommt. Hier stehen noch lauter Sachen von Tante Jean, überall sind Fotos von ihr, wie in einem Mausoleum. Ihre Augen auf den Fotos folgten mir, und ich wurde ganz schwach. Meine Beine zitterten, die Knie gaben nach und ich ließ mich auf den Boden fallen. Ich schluchzte und winselte wie ein Filmschurke, wenn sein letztes Stündlein geschlagen hat. Ich selbst war kein bisschen besser, denn Eisenmann hatte völlig recht – ich war gestört und gemeingefährlich. Ich hatte schon meine Tante und meine Lehrerin auf dem Gewissen und würde noch mehr schlimme Taten begehen, ganz bestimmt. Dass meine Mutter weggegangen war, hatte garantiert auch seinen Grund – höchstwahrscheinlich war ich auch daran schuld.
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    Als ich wieder zu mir kam, lag ich zusammengerollt auf dem Wohnzimmerteppich. Meine rechte Wange war nass von Spucke, meine Klamotten waren durchgeschwitzt. Dafür war das grässliche Raunen endlich verstummt.
    Ich stellte die Dusche so heiß, dass meine Haut krebsrotwurde und der Dampf das ganze Bad vernebelte. Dann tappte ich in ein Handtuch gewickelt in den Flur, warf meine verschwitzten Sachen in den Wäschekorb und überlegte, ob ich die Waschmaschine anschmeißen sollte. Aber die Waschküche erinnerte mich an Gefängniswäschereien in Filmen, worauf mir schon wieder die Tränen kamen. Also ging ich sofort raus, weil ich nicht wieder heulen wollte.
    Sonst kommt Onkel Hank immer gegen sieben und wir essen zusammen zu Abend, aber inzwischen war es halb neun. Offenbar musste er wieder mal eine Nachtschicht einlegen. Oder er hatte einfach keine Lust auf mich. Ich schmierte mir ein Erdnussbutterbrot. Doch als ich den ersten Bissen runterschlucken wollte, bekam ich einen Krampf im Hals und musste den Happen wieder ausspucken. Ich warf das Brot in den Mülleimer.
    Ich ging hoch in mein Zimmer, stellte den Ventilator an und legte mich aufs Bett. Die Sonne war beinahe untergegangen, und der Himmel an meinen Zimmerwänden mit seinen lila und orangeroten Streifen war wie mit Blut übergossen. Mein Kopf hämmerte, als hätte mir jemand einen Schlagstock über die Rübe
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