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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis
Autoren: Ilsa J. Bick
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Ich darf nicht länger hierbleiben.Sonst ergeht es den Menschen schlecht, an denen mir in dieser Welt etwas liegt.
    Was ich male und zeichne, wird nämlich lebendig. Manchmal sind es Alpträume, die andere Leute am liebsten vergessen würden. Aber es gelingt ihnen nicht. Manchmal bringe ich Vergangenes wieder ans Licht und manchmal zeichne ich das Schicksal, die schlimmsten Befürchtungen der Leute für ihre eigene Zukunft. Vielleicht ist das ja auch dasselbe, denn wie meine Seelenklempnerin immer sagt: Der Mensch ist die Summe seiner Erinnerungen und Erfahrungen plus aller Erwartungen, die andere in einen setzen. Deswegen weiß man manchmal nicht, wo der Einfluss der anderen aufhört und man selbst anfängt. Anders ausgedrückt: Alles, was man erlebt hat und wie man früher war, beeinflusst, zu was für einem Menschen man sich entwickelt.
    Bei mir ist das so: Manchmal, wenn ich male und zeichne, wenn alles, was ich bin und was mich ausmacht, aus meinem Kopf in meine Finger strömt, dann bringe ich jemanden um. Oder ich lasse jemanden umbringen, was auf das Gleiche hinausläuft, auch wenn ich es nicht absichtlich tue. So wie letzte Nacht.
    Alles, was sich auf der anderen Seite tummelt, ist zugleich in mir und hinter der Tür. Ich muss nur noch die Klinke malen und runterdrücken. Und das mache ich auch, ganz bestimmt. Aber wenn die Therapeutin recht hat damit, dass man nicht wissen kann, wo man hingeht, wenn man nicht begriffen hat, wo man herkommt – dann muss ich erst verstehen, wie ich in diese Lage gekommen bin, damit ich anschließend auf die andere Seite gehen und uns hoffentlich alle gesund und munter zurückbringen kann.
    Am besten fange ich ganz von vorn an. Nämlich an dem Mittwochmorgen, als ich aus einem Alptraum aufgewacht bin. Einem Alptraum, in dem ich zum ersten Mal den Mord gesehen habe.

I
    An dem Morgen, an dem ich abgeführt wurde, hatte ich die schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens. Es fühlte sich an, als würde mir jemand Nägel in die Augen hämmern. Beim Aufwachen kam es mir vor, als müsste ich mich aus einem großen Spinnennetz befreien, und ich schwöre, dass ich den Geruch von Heu und Pferdeäpfeln in der Nase hatte. Mir wurde klar, dass ich einen Alptraum gehabt hatte.
    Blut … nein, Papa, nein, nein …
    Überall Blut und wiehernde Pferde und rufende Männer.
    Papa, nein.
    Und … war in dem Traum nicht auch ein Messer vorgekommen? Nein, kein Messer … sondern … Grant Wood. Mir fiel sofort dieser Maler ein, als ich versuchte, mich wieder an meinen Traum zu erinnern. Jetzt kennt vielleicht nicht jeder Grant Wood, aber sein Gemälde American Gothic ist ziemlich bekannt, das mit dem weißen Bauernhaus, der hageren Frau und dem grimmigen Bauern mit der Heugabel. In Wirklichkeit war die Frau die Schwester des Malers und der grimmige Typ sein Zahnarzt, aber das spielt hier keine Rolle und war auch nicht der Grund, weshalb mir sofort Grant Wood einfiel.
    Ich dachte nämlich: Nein, kein Messer, sondern …
    (Blut auf meinen Händen)
    … eine Heugabel …
    Aua, mein Kopf! Außerdem schmerzten meine Beine und Knie höllisch, als wäre ich die ganze Nacht Fahrrad gefahren. Mein rechter Arm tat auch weh. Meine rechte Hand war total verkrampft, als hätte ich in der Schule tausend Tests hintereinander geschrieben und am laufenden Band Lösungen angekreuzt. Unter meinen Fingernägeln klebte irgendwelches Zeug. Es war aber kein Dreck, sondern hellrot wie Blut, als hätte ich mich geschnitten. Hatte ich aber nicht.
    Noch etwas: In meinem Kopf … wie soll ich es beschreiben … da hörte ich die ganze Zeit ein dumpfes Brummen, wie von Motorrädern oder einem fernen Gewitter oder wie das vielstimmige Raunen einer großen Menschenmenge.
    Ziemlich verrückt, das Ganze.
    Die Herbstferien waren vorbei. Wir hatten die zweite Woche wieder Schule und es war Mittwoch. Für September war es ungewöhnlich warm. Mein Bettzeug war verschwitzt und mein Mund ausgetrocknet. Wir besitzen keine Klimaanlage, weil wir in der Nähe vom See wohnen und mit Ventilatoren auskommen. Ich lag also da, und der Ventilator dröhnte wie ein startendes Flugzeug. Der Schweiß auf meiner Haut verdunstete, bis ich irgendwann fror und mir außerdem der Duft von Rührei in die Nase stieg. Zeit zum Aufstehen. Ich setzte mich auf – und stellte fest, dass meine Wand irgendwie anders aussah.
    Ich male und zeichne schon immer an meine Wände. Onkel Hank und Tante Jean hat das nie gestört. Sie fanden, ich müsste meiner Kreativität
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