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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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gewesen war. »Denkt genau nach! Seid ihr sicher, dass ihr keine Frau gesehen habt, auf die diese Beschreibung passt?«
    Beide Männer erklärten, dass sie sich ganz sicher seien, und Sano glaubte ihnen. Er und seine Leute setzten ihren Weg fort und gelangten zu einer Straße, die von Imbissständen gesäumt wurde. Hier gab es gebratenen Aal, Garnelen und Tintenfisch, dazu gekochten Reis, Nudeln und Suppe. Würzige Essensdünste erfüllten die feuchte Luft.
    »Ich hab Hunger«, sagte Marume.
    Fukida lachte. »Du hast immer Hunger.«
    Sano hatte seit dem Morgen vor dem Turnier nichts gegessen, deshalb nahmen er und seine Leute einen Imbiss zu sich. Anschließend setzten sie ihre Befragungen fort. Schon bald erfuhren sie, dass Major Kumazawa und seine Männer bereits die gesamte Umgebung des Tempels in Angst und Schrecken versetzt hatten; sie hatten die Menschen eingeschüchtert, gequält und beleidigt.
    Doch auch Sanos Suche blieb erfolglos. Ein Teehausbetreiber, Ladenbesitzer, Straßenhändler und Hausierer nach dem anderen erklärte, dass er Chiyo nicht gesehen hatte. Die Vorsteher der Wohnviertel gaben an, dass sie von niemandem wüssten, der eine Frau in einem Haus innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs versteckt hielt. Ein doshin, ein Streifenbeamter der örtlichen Polizei, sagte aus: »Major Kumazawa hat mir angedroht, dass er mir den Kopf abschlägt, wenn ich ihm nicht helfe, seine Tochter zu suchen. Also habe ich auf meinen Runden nach ihr Ausschau gehalten und jeden befragt, der mir über den Weg gelaufen ist - leider vergebens.«
    »Sieht so aus, als hätte Chiyo das Viertel verlassen, ob nun aus freien Stücken oder gegen ihren Willen«, sagte Sano, als er und seine Leute durch eine Gasse ritten.
    Sie bogen in eine Straße ein, die an einem Kanal entlangführte, der gerade ausgeschachtet wurde. Arbeiter hoben mit Schaufel und Hacke eine breite, tiefe Rinne aus, Tagelöhner schleppten den Aushub fort und luden ihn auf Ochsenkarren. Sano, Marume und Fukida blickten in den Graben hinein, auf dessen Grund die frische, feuchte schwarze Erde schimmerte.
    »Denkt Ihr auch, was ich denke, Sano -san ?«, fragte Marume.
    Sano weigerte sich, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass seine Cousine ermordet und in diesem Graben verscharrt worden sein könnte. »Wir suchen weiter. Lass uns zum Tempel reiten.«
    Als die Männer sich wieder auf den Weg gemacht hatten, wurde aus dem Nieselregen ein Schauer, dann ein heftiger Wolkenbruch. Der Regen prasselte auf die Ziegeldächer, schoss in Sturzbächen von den Dachvorsprüngen und überspülte die Straßen. Es wurde diesig, und Dunstschwaden waberten durch die Straßen. Sano und seine Leute suchten Schutz unter einem Balkon, während ihre Pferde den Regen stoisch über sich ergehen ließen und die Menschen vor der Sintflut flohen.
    »Da gehen sie hin, unsere Zeugen«, sagte Fukida mürrisch.
    Ein Blitz zuckte. Einen Augenblick lang wurde der schwarze Himmel in grelles Licht getaucht, dann krachte der Donner. Die Welt außerhalb der geschützten Stelle, an der Sano und seine Männer sich untergestellt hatten, schien grau und menschenleer zu sein - bis Sano aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Ein Stück weiter die Straße hinunter schälte sich die Gestalt eines Menschen aus den sturmgepeitschten Regenschleiern und kämpfte sich in Sanos Richtung vorwärts. Die Gestalt kam näher, schwankend und taumelnd. Sano sah, dass es eine Frau war. Der Sturm peitschte ihr die nassen Strähnen ihres schwarzen Haares um den Kopf, und ihr durchnässter, zerrissener Kimono, lavendelfarben und mit dunkelrotem Muster, klebte wie eine zweite Haut an ihrem schlanken Körper. Mit einer Hand hielt die Frau ihren Kimono vor dem Busen zusammen, mit der anderen tastete sie umher wie eine Blinde, während sie mit bloßen Füßen über die Straße stolperte.
    »Bei allen Göttern!«, stieß Fukida hervor.
    Jetzt sah auch Sano, dass die roten Flecken auf dem Kimono der Frau kein aufgedrucktes Muster waren, denn der Regen wusch sie aus dem Stoff und spülte sie in die Pfützen.
    Die Frau blutete.
    Sano rannte zu ihr hin. Der Sturm peitschte auf ihn ein, und nach wenigen Augenblicken war er durchnässt bis auf die Haut. Die Frau schwankte. In ihren weit aufgerissenen Augen spiegelte sich namenloses Entsetzen. Regen lief ihr in den offen stehenden, verzerrten Mund. Ihr Alter war schwer zu schätzen; sie mochte in den Dreißigern sein. Ihre Gesichtszüge kamen Sano auf seltsame Weise vertraut

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