Der Wolkenpavillon
die Bewachung der Reissilos zuständig, die östlich von Asakusa am Flussufer standen. Außerdem befehligte er die Truppen in dieser Gegend. Im Herrenhaus der Kumazawa war Sanos Mutter aufgewachsen, aber Sano hatte das Haus noch nie zu Gesicht bekommen.
Vielleicht bald.
Nach einer weiteren Stunde tauchte Asakusa am dunstigen Horizont auf. Ursprünglich ein kleiner Außenposten von Edo und seit Urzeiten Standort eines Tempels, hatte Asakusa sich zu einer riesigen, blühenden Vorstadt entwickelt. Wie Küken um eine Glucke scharten sich weitere Tempel um die gewaltige Anlage des Kannon-Schreins. Über den Dächern erhoben sich die schlanken Silhouetten von Türmen und Pagoden. Die Reisfelder verschwanden und wichen Straßen, die von der Ōshū Kaidō abzweigten. Nicht mehr lange, und die Gegend war so dicht besiedelt wie in einer Großstadt. Verkäufer versuchten Kunden in ihre Läden zu locken, in denen buddhistische Rosenkränze, Weihrauch, Schuhe, Fächer, Schirme und andere Dinge verkauft wurden - zu Preisen, die sehr viel günstiger waren als auf dem überteuerten Markt im Tempelbezirk. Mit üppigen Topfpflanzen geschmückte Balkone schützten die Menschen vor dem Nieselregen, der eingesetzt hatte. Die Straßen wurden schmaler, sodass Sano und seine Männer hintereinander reiten mussten. Marume ritt voran und erkundete den sichersten Weg.
»Habt Ihr einen Verdacht, was Eurer Cousine zugestoßen sein könnte?«, wollte Fukida von Sano wissen.
»Nein«, antwortete der. »Vielleicht hält Chiyo sich gar nicht mehr im Tempelbezirk auf. Das müssen wir herausfinden.«
Vor dem Tor zum angrenzenden Wohnviertel stieg Sano vom Pferd. Solche Tore gab es in allen großen Städten Japans. Sie wurden über Nacht geschlossen, damit die Bewohner drinnen blieben, um Ärger zu vermeiden und Gesindel fernzuhalten. Tagsüber dienten die Tore als Kontrollstellen. »Fangen wir gleich hier mit der Suche an«, sagte Sano.
Marume kam zurückgeritten, um sich Sano und den anderen anzuschließen. »Ist das hier nicht die Gegend, die Euer Onkel schon abgesucht hat?«
»Ja, aber er könnte etwas übersehen haben.« Sano wandte sich an den Torwächter. »Ich suche nach einer vermissten jungen Frau.«
Der Torwächter war ein einfacher junger Bursche vom Land; er hatte bis eben mit einem Teeverkäufer geschwatzt, der seinen Eimer und die Becher abgesetzt hatte, um eine Pause zu machen. Nun wurde das runde Gesicht des Wachmannes bleich vor Schreck. »Ich habe sie nicht gesehen, Herr, ich schwör's!« Er ließ sich auf die Knie fallen und beugte sich so tief nach vorn, das seine Stirn fast den Boden berührte. Er war den Tränen nahe. »Ich habe nichts verbrochen!«
»Wenn Ihr nichts verbrochen habt, warum habt Ihr dann Angst?«, fragte Sano.
Der Teeverkäufer, ein alter, knorriger Mann, meldete sich zu Wort. »Wegen diesem anderen Samurai, der gestern hier war«, erklärte er. »Der hat sich ebenfalls nach einer vermissten Frau erkundigt. Er und seine Soldaten haben jeden verprügelt, den sie in Verdacht hatten, dass er jemanden versteckt halten könnte, und sie haben alle zusammengeschlagen, die ihnen nicht schnell genug geantwortet haben.«
»Wer war dieser Samurai?«, fragte Sano, hellhörig geworden.
»Keine Ahnung, er hat seinen Namen nicht genannt. Aber ich kann mich an sein Gesicht erinnern. Es war hart und kantig, mit tiefen Furchen in den Mundwinkeln«, antwortete der Teehändler.
»Major Kumazawa!«, stieß Sano hervor.
Der Teehändler zeigte auf den Wachmann. »Er hat meinem armen Freund eine ziemliche Tracht Prügel verpasst.«
»Sieht so aus, als hätte Euer Onkel uns nicht gerade den Weg geebnet, Sano -san «, sagte Marume.
»Ich kann ja verstehen, dass er seine Tochter unbedingt finden will«, warf Fukida ein, »aber Zeugen zu verprügeln hilft gar nicht.«
Sano war wütend. Er hatte gehofft, endlich eine Ermittlung führen zu können, ohne dass jemand sich einmischte. »Tut mir leid, was passiert ist«, sagte er zu dem Wachmann, »aber ich muss von Euch wissen, ob Ihr eine fremde Frau gesehen habt, die allein unterwegs war oder die gezwungen wurde, mit jemandem mitzugehen, oder die so aussah, als ob sie in Schwierigkeiten steckte.«
Der Wachmann und auch der Teeverkäufer schworen, dass sie keine solche Frau gesehen hatten.
»Die Gesuchte ist dreiunddreißig Jahre alt und trug einen lavendelfarbenen, mit weißen Blumen bedruckten Kimono«, sagte Sano, der von seinem Onkel erfragt hatte, wie Chiyo gekleidet
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