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Der Wissenschaftswahn

Der Wissenschaftswahn

Titel: Der Wissenschaftswahn
Autoren: Rupert Sheldrake
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weltliche Humanismus entstand in einer jüdisch-christlichen Kultur und übernahm vom Christentum den Glauben an die unvergleichliche Wichtigkeit menschlichen Lebens zusammen mit dem Glauben an ein künftiges Heil. Weltlicher Humanismus ist in gewisser Weise ein umgedeutetes Christentum, in dem der Mensch den Platz Gottes einnimmt. [40]
    Der weltliche Humanismus macht den Atheismus etwas gefälliger, weil er neben beweisbaren Fakten noch einen tröstlichen Fortschrittsglauben zulässt. Erlösung kommt nicht mehr aus der Hand Gottes, sondern die Menschen sorgen mit Naturwissenschaft, Vernunft und gesellschaftlichen Reformen selbst für ihr Heil. [41]
    Alle Materialisten, ob sie den Glauben an menschlichen Fortschritt teilen oder nicht, nehmen an, die Wissenschaft werde ihre Überzeugungen irgendwann als wahr erweisen. Auch das ist freilich reine Glaubenssache.

Dogmen, Glaubenssätze und die Freiheit des Forschens
    Bestehende Glaubenssätze zu hinterfragen ist nicht unwissenschaftlich, sondern gehört eigentlich zum Wesen der Wissenschaft. Was Wissenschaft schöpferisch macht, ist der Geist des aufgeschlossenen Forschens. Gelungene Wissenschaft ist ein Prozess, nicht eine Position oder ein System von Gewissheiten. Auf Neuland kann Wissenschaft nur vorstoßen, wenn sich die Wissenschaftler ungebunden genug fühlen, um neue Fragen zu stellen und neue Theorien zu entwerfen.
    In seinem wegweisenden Buch
Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
(englische Originalausgabe 1962 ) zeigte der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn auf, dass sich die meisten Wissenschaftler in Zeiten »normaler« Wissenschaft zu einem gemeinsamen Wirklichkeitsmodell bekennen, das er »Paradigma« nannte und das auch bestimmt, wie Fragen zu stellen sind. Das jeweils herrschende Paradigma gibt also vor, was für Fragen erlaubt und wie sie zu beantworten sind. Normale Wissenschaft spielt sich in diesem Rahmen ab, und was sich hier nicht einfügt, wird in der Regel wegerklärt. Natürlich sammeln sich dann Anomalien an, und schließlich wird ein Krisenpunkt erreicht. Zu revolutionären Veränderungen kommt es, wenn die Forscher den Rahmen ihres Denkens und ihrer Praxis so ausweiten, dass er auch die Fakten integrieren kann, die bis dahin als Anomalien unberücksichtigt blieben. Irgendwann wird dann auch das neue Paradigma die Basis für eine neue Phase der normalen Wissenschaft. [42]
    Kuhn trug dazu bei, den sozialen Aspekt der Wissenschaft ins Blickfeld zu rücken, und rief uns in Erinnerung, dass Wissenschaft ein kollektives Unterfangen ist. Wissenschaftler unterliegen den üblichen Zwängen menschlichen Zusammenlebens, nicht zuletzt dem Gruppendruck, der vom Kollegium ausgeht, sowie dem Zwang, mit den Normen dieser Gruppe konform zu gehen. Kuhns Gedankengang beruhte weitgehend auf der Wissenschaftsgeschichte, aber die Wissenschaftssoziologen haben seine Gedanken aufgegriffen und vertieft. Sie sahen sich an, wie Wissenschaft tatsächlich praktiziert wird, wie die Wissenschaftler stützende Netzwerke aufbauen, wie sie Mittel und Resultate nutzen, um Macht und Einfluss zu gewinnen, und wie sie um Forschungsmittel, Prestige und Anerkennung konkurrierten.
    Bruno Latours
Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers Through Society
( 1987 ) ist eine der einflussreichsten Studien in dieser Tradition. Latour fiel auf, dass Wissenschaftler ganz selbstverständlich zwischen Wissen und Glauben unterscheiden. Innerhalb ihres Fachgebiets kennen sie sich mit den Gegenständen aus, die ihre Disziplin abdeckt, während alle außerhalb dieses Netzwerks nur
glauben
, sie wüssten. Und wenn Wissenschaftler einen Blick auf Menschen außerhalb ihrer Gruppe werfen, fragen sie sich oft ratlos, wie es da so irrational zugehen kann:

    Wissenschaftler haben ein ziemlich düsteres Bild von Nichtwissenschaftlern: Ein paar Köpfe finden heraus, was es mit der Realität wirklich auf sich hat, während alle übrigen nur wirre Vorstellungen haben oder sich einfach nicht von gesellschaftlichen, kulturellen und psychologischen Vorgaben lösen können und deshalb starr an alten Vorurteilen festhalten. Einen Lichtblick gewährt allein die Vorstellung, dass alle Menschen, könnte man nur die Dinge aus dem Weg räumen, die sie zu Gefangenen ihrer Vorurteile machen, augenblicklich und ohne Aufwand so grundvernünftig werden würden wie die Wissenschaftler. Sie würden ohne Weiteres erfassen, was es mit den Phänomenen der Welt auf sich hat. In jedem von uns steckt ein
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