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Der Wissenschaftswahn

Der Wissenschaftswahn

Titel: Der Wissenschaftswahn
Autoren: Rupert Sheldrake
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Technik die Welt tiefgreifend verändert haben, ist keine Frage. Die Wissenschaft feiert ihre Erfolge, wenn es darum geht, Maschinen zu bauen, Ernteerträge zu steigern oder Heilverfahren zu entwickeln. Hier ist ihre Geltung enorm. Seit ihren Anfängen im Europa des siebzehnten Jahrhunderts hat sich die mechanistische Naturwissenschaft mit dem europäischen Imperialismus und seinen Ideologien – denken wir an Marxismus, Sozialismus und den Kapitalismus der freien Märkte – über die ganze Welt ausgebreitet. Durch die wirtschaftliche und technische Entwicklung erfasst sie Milliarden von Menschen. Die Verkünder der Wissenschaft und Technik verbuchten Erfolge, von denen die christlichen Missionare nicht einmal träumen konnten. Niemals zuvor hat ein einzelnes Ideengebäude die ganze Welt beherrscht. Bei all den Erfolgen ist jedoch nicht zu übersehen, dass die Naturwissenschaft auch heute noch den ideologischen Ballast ihrer europäischen Vergangenheit mit sich herumschleppt.
    Wissenschaft und Technik sind aufgrund der unübersehbaren materiellen Vorteile, die sie mit sich bringen, fast überall willkommen, und die materialistische Philosophie ist fester Bestandteil des Pauschalvertrags. Dabei können religiöse Überzeugungen und eine wissenschaftliche Laufbahn die erstaunlichsten Verbindungen eingehen. Ein indischer Wissenschaftler schrieb 2009 in der Zeitschrift
Nature
:

    [In Indien] ist Naturwissenschaft weder die einzig wahre Form der Erkenntnis noch allzu sehr durch Skepsis behindert … Ich habe in meinen dreißig Jahren als Forscher beobachten können, dass die meisten indischen Wissenschaftler ganz offen die Götter und Göttinnen anrufen und um Mithilfe beim Erfolg in beruflichen Angelegenheiten ersuchen, wenn es etwa darum geht, eine wissenschaftliche Arbeit zu veröffentlichen oder Anerkennung zu finden. [38]

    Überall auf der Welt ist den Wissenschaftlern bekannt, dass die Lehren des Materialismus während der Arbeitszeit die Regel sind, an die man sich zu halten hat. Nicht viele Wissenschaftler sprechen sich offen dagegen aus – oder frühestens, wenn sie sich aus dem Berufsleben zurückziehen oder den Nobelpreis gewonnen haben. Und die meisten gebildeten Menschen beugen sich in der Öffentlichkeit der Meinungsmacht der Naturwissenschaft und bekennen sich zum orthodoxen Glauben, auch wenn sie privat anders denken.
    Natürlich gibt es Wissenschaftler und Intellektuelle, die aus tiefster Überzeugung Atheisten sind und bei denen der Materialismus den Kern ihres Glaubens ausmacht. Einige wenige von ihnen werden Missionare und sind voller Bekehrungseifer. Sie sehen sich als so etwas wie Kreuzritter, die für Wissenschaft und Vernunft gegen die Kräfte des Aberglaubens, der Religion und der Leichtgläubigkeit zu Felde ziehen. Etliche Bücher, die eine frontale Opposition dieser Art propagieren, wurden in den letzten Jahren zu Bestsellern, zum Beispiel
Das Ende des Glaubens: Religion, Terror und das Licht der Vernunft
von Sam Harris,
Den Bann brechen: Religion als natürliches Phänomen
von Daniel Dennett,
Der Herr ist kein Hirte: wie Religion die Welt vergiftet
von Christopher Hitchens und
Der Gotteswahn
von Richard Dawkins. Letzteres, 2006 erschienen, wurde allein in der englischen Originalausgabe bis 2010 zwei Millionen Mal verkauft und in vierunddreißig Sprachen übersetzt. [39] Dawkins war Professor of the Public Understanding of Science an der Oxford University, bis er diese Position 2008 aus Altersgründen aufgab.
    Doch nur wenige Atheisten glauben ausschließlich an den Materialismus. Die meisten sind außerdem Humanisten, bei denen der Glaube an die Menschheit die Stelle des Glaubens an Gott eingenommen hat. Die Menschen nähern sich durch die Naturwissenschaft einer gottähnlichen Allwissenheit an. Gott hat keinen Einfluss auf den Lauf der Menschheitsgeschichte. Vielmehr haben die Menschen das Heft selbst in die Hand genommen und erwirken den Fortschritt selbst – durch Vernunft, Wissenschaft, Technik, Bildung und gesellschaftliche Reformen.
    Die mechanistische Naturwissenschaft gibt keinen Anlass zu der Vermutung, das Leben habe einen Sinn, die menschliche Existenz einen Zweck und der Fortschritt etwas Zwangsläufiges. Stattdessen erklärt sie das Universum und das menschliche Dasein ausdrücklich für sinnlos. Ein konsequenter Atheismus ohne humanistischen Glauben malt ein trostloses Bild und gibt wenig Anlass zu Hoffnungen, wie Bertrand Russell so eindringlich klargemacht hat. Doch der
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