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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger
Autoren: William Nicholson
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überwältigte, dass sie es nicht mehr aushielt, lief Kestrel die neun Ränge der Arena hinunter, setzte sich unten im Rund auf die weißen Marmorplatten und sprach eine Stunde lang oder länger mit dem Windsänger. Natürlich verstand er sie nicht und das ächzende Knarren, mit dem er ihr antwortete, ähnelte auch keiner menschlichen Sprache, aber es tröstete sie dennoch. Eigentlich wollte sie gar nicht unbedingt verstanden werden. Sie wollte nur ihrer Wut und ihrer Hilflosigkeit Luft machen und sich dabei nicht völlig allein fühlen. 
    An diesem Tag, dem schlimmsten bisher, schlug Kestrel instinktiv den Weg zur Arena ein. Ihr Vater würde um diese Zeit noch nicht aus der Bücherei zurück sein. Und ihre Mutter war sicher noch im Krankenhaus, wo Pinpin, wie alle Zweijährigen, eine ärztliche Musterung über sich ergehen lassen musste. Wohin sollte sie also sonst gehen? Man beschuldigte sie später, ihr schändliches Verhalten vorher geplant zu haben, doch es war nicht ihre Art, Intrigen zu spinnen. Sie handelte eher spontan und wusste in der Regel selbst kaum, was sie als Nächstes tun würde. Bowman aber ahnte bereits, dass sie in Schwierigkeiten geraten würde, während er ihr folgte. Und Mumpo lief ihr nur nach, weil er sie liebte. 
    Die Straße zum Stadtkern führte am Hof der Weberei vorbei. Weil die Weber gerade Mittagspause hatten, standen sie alle im Hof und machten Gymnastik. 
    »Berührt die Erde! Berührt den Himmel!«, rief der Trainer. »Ihr habt die Kraft, dass ihr es schafft!« 
    Die Weber beugten und streckten sich, auf und nieder, auf und nieder, immer im Takt. 
    Ein Stück weiter begegneten die drei einem Straßenkehrer, der neben seiner Schubkarre saß und sich sein Mittagessen schmecken ließ. 
    »Ihr habt nicht zufällig irgendwelchen Abfall, den ihr fallen lassen könntet?«, fragte er. 
    Die Kinder durchsuchten ihre Taschen. Bowman fand ein Stück angebrannten Toast, das er eingesteckt hatte, um seine Mutter nicht zu betrüben. 
    »Lass es einfach fallen!«, rief der Straßenkehrer mit leuchtenden Augen. 
    »Ich werfe es am besten gleich in Ihre Schubkarre«, bot Bowman an. 
    »Ja, nimm mir nur meine Arbeit ab«, gab der Straßenkehrer bissig zurück. »Dir kann es ja egal sein, wie ich mein Ziel erreichen oder gar überschreiten soll, wenn nie jemand etwas fallen lässt. Du brauchst dich ja nicht darum zu sorgen, wie ich zurechtkomme, du wohnst im Orangefarbenen Bezirk, dir geht’s gut. Du denkst wohl gar nicht daran, dass ich mich verbessern möchte wie alle anderen auch. Versuch du doch mal im Grauen Bezirk zu leben. Meine Frau hätte ja so gern eine dieser hübschen Wohnungen mit den kleinen Balkonen im Kastanienbraunen Bezirk.« 
    Bowman ließ sein Stück Toast auf die Straße fallen. 
    »Na, also«, sagte der Straßenkehrer zufrieden. »Vielleicht schau ich es mir erst eine Weile an, bevor ich es auffege.« 
    Kestrel war schon weit vorausgelaufen, Mumpo trottete noch immer hinterdrein. Bowman rannte, um sie einzuholen. 
    »Wann gibt’s Mittagessen?«, wollte Mumpo wissen. 
    »Sei still«, fuhr Kestrel ihn an. 
    Als sie den Platz überquerten, schlug die Glocke im Palastturm zwei. Bang! Bang! Ihre Klassenkameraden würden jetzt an ihre Plätze zurückmarschieren und Dr. Batch würde die drei Schulschwänzer wegen unerlaubten Fehlens eintragen. Das hieß: noch weniger Punkte. 
    Sie gingen durch die Doppelreihe von Marmorsäulen, die den obersten Rang der Arena umgaben, und stiegen die Stufen hinab. 
    Mumpo blieb plötzlich auf dem fünften Rang stehen und setzte sich auf die weiße Marmorstufe. 
    »Ich hab Hunger«, verkündete er. 
    Kestrel beachtete ihn gar nicht. Sie ging weiter bis nach unten und Bowman folgte ihr. Mumpo wollte auch mitkommen, aber da er nun seinen Hunger bemerkt hatte, konnte er an nichts anderes mehr denken. Er blieb auf seiner Stufe sitzen, schlang die Arme um die Beine und sehnte sich von ganzem Herzen nach einem Mittagessen. 
    Am Fuß des Windsängers blieb Kestrel schließlich stehen. Die Wut über Pinpins Prüfung, über Dr. Batchs Sticheleien und die ganze erdrückende Ordnung von Aramanth hatte in ihr das heftige Verlangen geweckt zu erschüttern, zu verwirren, zu schockieren. Eigentlich wusste sie nicht, wen oder was, oder wie sie es anstellen sollte, aber sie wollte den glatten, reibungslosen Lauf der Welt stören, wenn auch nur für einen Moment. Sie war zum Windsänger gekommen, weil er ihr Freund und Verbündeter war, doch erst
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