Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Windsänger

Titel: Der Windsänger
Autoren: William Nicholson
Vom Netzwerk:
ich mich ja. Vielleicht irrt sich Kestrel. Vielleicht hat sie sich einfach nur aus Versehen auf den falschen Platz gesetzt.« 
    Er stand nun dicht vor ihr und starrte sie schweigend an. Kestrel wusste, dass er ihr einen Tausch anbot: ihren Gehorsam gegen ihren Stolz. 
    »Vielleicht steht Kestrel ja wieder auf und geht an ihren 
    richtigen Platz zurück.« Kestrel zitterte, rührte sich aber nicht. Dr. Batch wartete noch einen Augenblick und zischte ihr 
    dann zu: »Wer hätte das gedacht? Kestrel und Mumpo. Ein hübsches Paar.« Den ganzen Morgen stichelte er weiter. Im Sprachunterricht schrieb er an die Tafel: 
    BESTIMMT DAS TEMPUS 
    Kestrel liebt Mumpo. Kestrel wird von Mumpo geliebt. Kestrel wird Mumpo lieben. Kestrel hat Mumpo geliebt. Kestrel wird Mumpo geliebt haben. 
    In der Mathematikstunde schrieb er an die Tafel: 
    Wenn Kestrel Mumpo 392-mal küsst und 98-mal umarmt, die Hälfte der Umarmungen von Küssen begleitet wird und ein Achtel der Küsse sabberig sind, wie viele sabberige Küsse mit Umarmungen kann Kestrel Mumpo dann geben? 
    So ging es immer weiter und die Klasse kicherte, ganz wie Dr. Batch bezweckt hatte. Bowman drehte sich häufig zu Kestrel um, doch sie saß einfach nur da, machte ihre Aufgaben und sagte kein Wort. 
    Als es zur Mittagspause läutete, verließ Kestrel schweigend das Klassenzimmer und Bowman schloss sich ihr an. Ärgerlich stellte er fest, dass ihr der schniefende Mumpo folgte und nicht von ihrer Seite wich. 
    »Hau ab, Mumpo«, sagte Kestrel. 
    Doch Mumpo haute nicht ab. Er trottete einfach neben Kestrel her und schaute sie die ganze Zeit an. Ab und zu murmelte er unvermittelt: »Ich mag Kess«, und wischte sich die Nase an seinem Hemdsärmel ab. 
    Kestrel steuerte auf das Schultor zu. 
    »Wo willst du hin, Kess?«, fragte Bowman. 
    »Weg von hier«, antwortete sie. »Ich hasse die Schule.« 
    »Ja, aber, Kess…« Bowman wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Natürlich hasste sie die Schule. Alle hassten die Schule. Aber hingehen musste man trotzdem. 
    »Und was wird aus unserer Familiennote?« 
    »Weiß ich nicht«, entgegnete Kestrel. Sie lief schneller und fing an zu weinen. Als Mumpo das merkte, war er verzweifelt. Er hüpfte um sie herum, streckte seine schmutzigen Hände aus, um sie zu streicheln, und stieß allerlei kleine Geräusche aus, die sie trösten sollten. 
    »Wein doch nicht, Kess. Ich bin dein Freund. Wein doch nicht.« 
    Kess schob ihn wütend zur Seite. »Hau ab, Mumpo. Du stinkst.« 
    »Ja, ich weiß«, antwortete Mumpo kleinlaut. 
    »Kess«, bat Bowman, »komm in die Schule zurück und setz dich an deinen richtigen Platz, dann lässt Batch dich in Ruhe.« 
    »Ich gehe nie wieder zurück«, entgegnete Kestrel. 
    »Aber das musst du!« 
    »Ich werde es Pa erzählen. Er wird mich verstehen.« 
    »Ich auch«, mischte sich Mumpo ein. 
    »Verschwinde, Mumpo!«, brüllte Kestrel ihm plötzlich ins Gesicht. »Verschwinde oder ich verpass dir eins!« 
    Sie hob drohend die Faust. Mumpo fiel wimmernd auf die Knie. 
    »Tu mir ruhig weh, wenn du willst. Macht mir nichts aus.« 
    Kestrels Faust blieb in der Luft hängen. Sie starrte Mumpo an. Auch Bowman musterte ihn. Plötzlich wurde ihm klar, wie Mumpo sich fühlte. Ein dumpfes, kaltes Entsetzen überkam ihn und ein alles durchdringendes Gefühl von Einsamkeit. Der Hunger nach Zuneigung war so stark, dass er fast laut aufgeschrien hätte. 
    »Sie meint es nicht so«, sagte er schließlich. »Sie schlägt dich nicht.« 
    »Von mir aus kann sie’s ruhig machen.« Mumpo schaute voller Bewunderung zu Kestrel auf. Jetzt glänzten seine Augen ebenso wie seine Oberlippe. 
    »Sag ihm, dass du ihn nicht schlägst, Kestrel.« 
    »Ich schlage dich nicht«, sagte Kestrel und ließ die Faust sinken. »Du bist zu dreckig zum Anfassen.« 
    Sie drehte sich um und lief die Straße hinunter. Bowman blieb an ihrer Seite. Mumpo folgte mit ein paar Schritten Abstand. Damit Mumpo nichts mitbekam, redeten Kestrel und ihr Bruder in Gedanken miteinander. 
    Ich kann so nicht weitermachen. Es geht einfach nicht. 
    Was sollen wir denn sonst tun? 
    Keine Ahnung, antwortete Kestrel. Irgendetwas. Und zwar bald, oder ich geh in die Luft. 

3 Schlimme Wörter 
    Als sie den Orangefarbenen Bezirk mit Bowman und Mumpo im Schlepp verließ, hatte Kestrel nichts anderes im Sinn gehabt als wegzukommen aus der verhassten Schule. Doch tatsächlich folgte sie einer der vier Hauptstraßen von Aramanth, die zur Arena im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher