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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger
Autoren: William Nicholson
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kleine Schwester Pinpin zu begrüßen. Sie stand in ihrem flauschigen Schlafanzug in ihrem Kinderbett und lutschte am Daumen. Pinpin schlief im Flur, weil ihr Bettchen in keines der beiden Schlafzimmer passte. Die Häuser im Orangefarbenen Bezirk waren einfach zu klein für eine fünfköpfige Familie. 
    »Hallo, Pinpin«, sagte Bowman zu ihr. 
    Pinpin nahm den Daumen aus dem Mund und auf ihrem runden Gesicht zeigte sich ein glückliches Lächeln. »Kuss«, sagte sie. 
    Bowman gab ihr einen Kuss. 
    »Arme«, verlangte sie. 
    Bowman nahm sie in die Arme. Als er ihren weichen rundlichen Körper an sich drückte, fiel es ihm wieder ein. Heute würde Pinpins erste Prüfung stattfinden. Mit ihren zwei Jahren war sie noch zu klein, um sich zu sorgen, wie gut oder schlecht sie abschneiden würde. Doch vom heutigen Tag an würde sie bis zu ihrem Tod benotet werden. Und das machte ihn traurig. 
    Tränen traten ihm in die Augen. Er weinte zu leicht, das sagte jeder. Aber was sollte er dagegen tun? Ihm ging nun einmal alles sehr nahe. Auch wenn er es nicht wollte, er brauchte jemanden nur anzusehen – egal wen – und schon wusste er, was derjenige fühlte. Allzu oft war es Angst oder Trauer. Und er begriff, weshalb dieser Mensch ängstlich oder traurig war, und fühlte ebenso und dann fing er an zu weinen. Das war ihm immer sehr unangenehm. 
    Heute Morgen machte ihn nicht traurig, was Pinpin im Moment fühlte, sondern was sie irgendwann einmal fühlen würde. Bis jetzt war ihr kleines Herz frei von allen Sorgen. Doch von heute an würde sie von einer immer bedrückenderen und beklemmenderen Angst vor der Zukunft gequält werden. Denn in Aramanth wurde das ganze Leben von Prüfungen bestimmt. Bei jeder Prüfung konnte man versagen und jede bestandene Prüfung führte zur nächsten, bei der man wiederum versagen konnte. Es gab weder ein Entkommen noch ein Ende. Beim Gedanken daran quoll ihm das Herz aus Liebe zu seiner kleinen Schwester über. Er drückte sie, so fest er konnte, und küsste sie immer wieder. 
    »Pinpin lieb«, sagte Bowman. 
    »Bo lieb«, erwiderte Pinpin. 
    Ratsch! Aus dem Badezimmer war ein lautes, reißendes Geräusch zu hören, dann ein weiterer Schwall von Flüchen. »Sagahock! Bangaplopp!« Und schließlich die vertraute jammernde Klage: »O unglückliches Volk!« 
    Dies war der Ausruf des großen Propheten Ira Manth gewesen, von dem die Familie seine Mutter in direkter Linie abstammte. Der Name war von Generation zu Generation weitergegeben worden, daher hieß auch seine Mutter Ira. Wenn sie einen ihrer Wutanfälle bekam, zwinkerte sein Vater den Kindern immer zu und sagte: »Hört die große Prophetin!« 
    Die Badezimmertür flog auf und Ira Hath erschienhöchstselbst. Sie wirkte etwas aufgebracht. Da sie die Ärmel ihres Morgenmantels nicht hatte finden können, hatte sie sich wütend in das Kleidungsstück hineingekämpft. Nun hingen die Ärmel auf beiden Seiten leer herab und ihre Arme schauten aus den geplatzten Nähten hervor. 
    »Heute ist Pinpins Prüfung«, bemerkte Bo. 
    »Heute ist was?« 
    Ira Hath blickte ihn einen Moment lang ungläubig an. Dann nahm sie ihm Pinpin aus dem Arm und drückte sie selbst so fest an sich, als wollte sie ihr jemand wegnehmen. »Mein Baby«, sagte sie. »Mein Baby.« 
    Beim Frühstück erwähnte niemand die Prüfung. Bis der Vater sein Buch zur Seite legte, etwas früher als gewöhnlich vom Tisch aufstand und zu seiner Familie sagte: »Wir sollten uns besser fertig machen.« 
    Kestrel schaute auf und ihre Augen funkelten entschlossen. »Ich gehe nicht mit«, verkündete sie. 
    Hanno Hath seufzte und rieb sich die faltigen Wangen mit einer Hand. »Ich weiß ja, Liebes. Ich weiß.« 
    »Es ist einfach nicht fair«, protestierte Kestrel, als zwänge ihr Vater sie mitzukommen. Und in gewisser Weise tat er das auch. Hanno Hath war immer so lieb und verständnisvoll zu seinen Kindern, dass sie kaum einmal etwas gegen seinen Wunsch tun mochten. 
    Ein vertrauter Qualmgeruch stieg vom Herd auf. 
    »Oh, Sagahock!«, rief Ira Hath. 
    Sie hatte wieder einmal den Toast verbrennen lassen. 
    Die Morgensonne stand noch tief am Himmel und die hohen Stadtmauern warfen ihren Schatten über den ganzen Orangefarbenen Bezirk, als Familie Hath die Straße zum Gemeindesaal entlangging. Mr. und Mrs. Hath gingen voran, Bowman und Kestrel folgten mit Pinpin, die zwischen ihnen lief und ihre Hände hielt. Andere Familien mit zweijährigen Kindern strebten in dieselbe
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