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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger
Autoren: William Nicholson
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Stadtkern führte, wo der Windsänger stand. 
    Die Stadt Aramanth war kreisförmig angelegt worden, oder besser gesagt zylindrisch, denn sie war von hohen Mauern umgeben. Diese Mauern waren vor langer Zeit errichtet worden, um die Stadtbewohner vor den kriegerischen Völkern der Ebene zu schützen. Seit vielen Generationen hatte niemand mehr gewagt das mächtige Aramanth anzugreifen, doch die Mauern blieben stehen und nur wenige Leute zog es hinaus aus der Stadt. Was gab es denn schon zu begehren in der Welt dort draußen? Nichts als die felsige Küste im Süden, wo das große graue Meer toste, und die unfruchtbare, öde Wüste im Norden, die sich bis zu den fernen Bergen erstreckte. Dort fand man keine Nahrung, keinen Schutz, keine Sicherheit. Dagegen hatte man innerhalb der Mauern alles, was man zum Leben brauchte, und mehr noch: Man hatte alles, was man für ein angenehmes Leben brauchte. Jeder Bürger von Aramanth wusste, dass er sich glücklich schätzen konnte in diesem einmaligen Hort des Friedens, des Reichtums und der Chancengleichheit für alle leben zu dürfen. 
    Die Stadt war ringförmig in Bezirke aufgeteilt. Der äußerste Ring lag im Schatten der Mauern. Dort ragten die riesigen, kastenförmigen Hochhäuser des Grauen Bezirks auf. Dann kamen die flacheren Mehrfamilienhäuser des Kastanienbraunen Bezirks und dann die gewundenen Straßen mit den kleinen Reihenhäusern des Orangefarbenen Bezirks, in dem die Familie Hath wohnte. Der Stadtmitte am nächsten lag der breite Ring des Scharlachroten Bezirks. Dort gab es geräumige Einzelhäuser mit eigenem Garten, die in einem gefälligen Labyrinth verwinkelter Wege lagen. Jedes Haus wirkte dadurch anders und besonders, obwohl natürlich alle dunkelrot gestrichen waren. Im Herzen der Stadt fand sich schließlich der prächtigste aller Bezirke: der Weiße Bezirk. Hier lag der Kaiserpalast, von dem aus Kaiser Creoth der Sechste, der Stadtvater von Aramanth, auf all seine Untertanen hinabblicken konnte. Hier standen die vornehmen Häuser der Stadtführer – aus Marmor oder poliertem Sandstein, schön und streng. Hier prangten die riesigen Säulen der Halle des Erfolgs, in der alle Familiennoten aushingen. Und gegenüber, auf der anderen Seite des Platzes, auf dem die Statue von Creoth dem Ersten stand, ragte das Institut der Prüfer mit seinen vielen Fenstern auf. Hier war der Sitz der Prüfungskommission, der obersten Regierungsinstanz von Aramanth. 
    Neben dem Platz, an dem die vier Hauptstraßen aufeinander trafen, und unterhalb der hoch aufragenden Mauern des Kaiserpalastes lag die Stadtarena. Früher einmal hatte sich die gesamte Bevölkerung von Aramanth in diesem großen Amphitheater zu den Wahlen und Debatten versammelt, die vor der Einführung des Notensystems notwendig gewesen waren. Heute würden gar nicht mehr alle Bewohner von Aramanth auf den neun absteigenden Marmorrängen der Arena Platz finden, doch man nutzte sie noch für Konzerte und Vorträge. Und natürlich fand hier jedes Jahr die Große Prüfung statt, der sich alle Familienoberhäupter unterziehen mussten, damit die Familiennoten für das jeweils nächste Jahr festgesetzt werden konnten. 
    In der Mitte der Arena, auf der kreisförmigen Bühne aus weißem Marmor, stand jener seltsame Holzturm, der als »Windsänger« bekannt war. Der Windsänger passte überhaupt nicht hierher. Er war nicht weiß. Er war schief. Und ihm fehlte die Schlichtheit und Ruhe, die den ganzen Weißen Bezirk kennzeichnete. Bei jeder leichten Brise bewegte er sich knarrend mal in die eine, mal in die andere Richtung, und wenn der Wind stärker wehte, gab er ein bedrückendes Ächzen von sich. Jedes Jahr wurde auf der Versammlung der Prüfungskommission der Antrag gestellt, den Turm abzureißen und durch ein würdigeres Stadtwahrzeichen zu ersetzen. Doch jedes Mal wurde der Vorschlag abgelehnt – vom Kaiser persönlich, flüsterte man sich zu. Und man konnte mit Recht behaupten, dass das Volk für den Windsänger Zuneigung empfand, weil er so alt war, weil er immer schon an diesem Ort gestanden hatte und weil es eine Legende gab, die besagte, dass er eines Tages wieder singen würde. 
    Kestrel Hath hatte den Windsänger ihr ganzes Leben lang geliebt. Sie liebte ihn dafür, dass er keinem starren Muster folgte und keinen Zweck erfüllte. Außerdem schien er mit seinem traurigen Heulen eine Abneigung gegen die geordnete Welt von Aramanth auszudrücken. Manchmal, wenn sie der Kummer über ihr Leben so
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