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Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen
Autoren: Leena Lehtolainen
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Lichter eines Frachtschiffs vorbei.
    Antti stand auf.
    »Ich geh mal pinkeln und nach Iida schauen. Lasst mir noch was vom Whisky übrig.«
    Außer dem Schein des Leuchtfeuers, der über das Meer strich, durchbrachen nur das verglimmende Grillfeuer und Mikkes Pfeifenglut die Dunkelheit. Hinter uns duckte sich die Festung.
    Als ich mich umdrehte, erschrak ich fast vor der massigen Silhouette, um die Fledermäuse flatterten. Ich hätte gern alles über den Mann gewusst, der neben mir saß und die Augustnacht mit mir teilte. Antti hatte ihn als Weltumsegler bezeichnet. Wer war er eigentlich, wie alt, was tat er, wenn er nicht segelte? Mit solchen Fragen begann jede Vernehmung: Name, Personalkenn-ziffer, Beruf. Hinter meiner Neugier tauchte aber auch eine Frage an mich selbst auf, die ich geflissentlich überhörte: Warum in aller Welt interessierte mich dieser Mann so brennend?
    Mikke saß schweigend da, und gegen meine Gewohnheit vermied auch ich es, wild drauflos zu quasseln. Als Antti zurückkam, fingen die beiden Männer wieder mit ihren Segelge-schichten an. Obwohl Antti in seiner Jugend fast jeden Sommer auf dem Meer verbracht hatte, war er im Vergleich zu Mikke ein Sonntagssegler. Mikke hatte tatsächlich zweimal die Welt umsegelt, zuerst als Crewmitglied bei einer Regatta, dann aus reiner Abenteuerlust im Alleingang. Im Oktober wollte er wieder in See stechen.
    »Du hast wohl keine Familie?« Im Zusammenhang mit seinen Reiseplänen klang meine Frage unverfänglich.
    »Wer will schon einen Globetrotter wie mich? Bisher bin ich auch noch keinem Menschen begegnet, mit dem ich es monatelang auf einem Zehnmeterboot aushalten würde.« In seinem Lächeln lag eine gewisse Schärfe, die vermuten ließ, dass sich hinter seiner Antwort viele Geschichten verbargen.
    Nach dem vierten Malt Whisky merkte ich, dass ich keinen Tropfen mehr trinken durfte, wenn ich am nächsten Tag nicht seekrank sein wollte. Trotzdem wäre ich gern aufgeblieben, bis die Sterne verloschen und das Leuchtfeuer von der Sonne überstrahlt wurde.
    Am nächsten Morgen hatte ich einen schweren Kopf, erst nach der zweiten Tasse Kaffee ging es mir besser. Über das Stillen machte ich mir keine Sorgen: Antti, der Familienmathematiker, hatte nachgewiesen, dass nur eine minimale Alkoholmenge in die Muttermilch gelangte.
    »Der Wind hat auf Südost gedreht. Das bedeutet, dass wir kräftigen Rückenwind Richtung Inkoo haben und uns nicht zu beeilen brauchen. Komm, wir steigen auf den Leuchtturm und genießen die Aussicht!«
    Iida war nach dem langen Schlaf voller Energie und wollte unbedingt selbst die Stufen hochkrabbeln. Sie hatte mit neun Monaten gelernt, mit Unterstützung zu laufen, und vor einer Woche die ersten freien Schritte gemacht. Der Himmel war klar, der dunkle Streifen im Süden mochte Estland sein. Im Norden kreuzten vereinzelte Segelboote, ein einsamer Prahm nahm Kurs auf Polen. Im Nordosten knatterte ein Motor, ein leichter Buster hielt auf die Insel zu.
    »Ich geh schwimmen. Vor der Abfahrt könnten wir noch ein paar Butterbrote essen«, schlug Antti vor. Die Fahrt nach Inkoo würde bei diesem Wind einen halben Tag dauern, und es war sinnvoll, die Abfahrtszeit so zu wählen, dass Iida unterwegs ihren Mittagsschlaf hielt.
    Der Buster legte an. Ein stämmiger Mann sprang an Land, vermutlich der Geschäftsführer Juha Merivaara, der den Sonntag auf seiner Insel verbringen wollte. Ich packte unsere Sachen ein und war gerade dabei, Butterbrote zu schmieren – mit einer Hand, weil Iida unbedingt auf den Arm wollte –, als Merivaara in die Küche kam.
    »Was haben wir denn hier für eine kleine Mutti?«, fragte er so süßlich, dass ich mein Gesicht in Iidas Haaren verbergen musste. Kleine Mutti war ja wohl das Letzte!
    »Maria Kallio, Hauptkommissarin bei der Espooer Polizei«, sagte ich und streckte ihm die Hand hin. »Eine schöne Insel haben Sie hier.«
    »Danke. Hauptkommissarin, soso …« Juha Merivaara sah mich abschätzend an.
    Während Mikke Sjöbergs prüfender Blick ein angenehmes Prickeln ausgelöst hatte, irritierte es mich, als Juha Merivaara mich musterte. In meinen Jeans, dem zu weiten roten Baum-Wollpullover und mit dem windzerzausten Kupferdrahthaar sah ich sicher nicht gerade wie eine Hauptkommissarin aus. Zu meinem Verdruss hielten mich viele sowieso für jünger, als ich war.
    Ich starrte zurück. Merivaara war etwa eins achtzig, hielt sich offenbar mit Sport in Form, setzte in der Taillengegend aber trotzdem Fett an.
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