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Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen
Autoren: Leena Lehtolainen
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Kontakt zu bleiben.
    Als begeisterter Ornithologe und Botaniker hatte Harri mir beigebracht, Vögel und Pflanzen zu erkennen. Insofern hatte ich von unserer Beziehung profitiert. Ansonsten hatten wir nicht zusammengepasst. Harri war zu lieb und nachgiebig gewesen und hatte sich nur wohl gefühlt, wenn er Vögel beobachten konnte. Ich wiederum war damals, im zweiten Jahr meines Jurastudiums, ein richtiges Partygirl und triezte den armen Jungen gnadenlos. Fest vereinbarte Wanderungen ließ ich ausfallen, weil ich verkatert war, oder ich verlor nach einer halben Stunde das Interesse und fuhr per Anhalter in die nächste Kneipe. Als wir schließlich beschlossen, uns zu trennen, waren wir beide erleichtert.
    Nachdem ich die Todesanzeige gesehen hatte, kramte ich mein altes Fotoalbum hervor. Tatsächlich fand ich einige Bilder, auf denen der schmächtige Harri auf der Halbinsel Porkkala sein Zelt aufbaute und mit dem Fernglas Eiderenten beobachtete. Es kam mir unwirklich vor, dass ich mit diesem kindlich und fremd wirkenden Mann das Bett geteilt hatte. Warum war er auf einer entlegenen Vogelinsel gestorben? Der Todesanzeige nach hatte er keine Familie gehabt, nicht einmal eine Lebensgefährtin. Ich hätte gern Harris Schwester Sari angerufen, um sie auszufragen, traute mich aber nicht. Sari hatte mich nicht besonders gemocht, wahrscheinlich hatte sie mir verübelt, wie ich mit ihrem Bruder umsprang.
    Ungeklärte Todesfälle und Selbstmorde fallen in Espoo in die Zuständigkeit des Dezernats, dessen Leitung ich nach dem Mutterschaftsurlaub übernehmen sollte. Also hatte ich meinen Kollegen Koivu angerufen.
    »Harri Immonen? Ja, ich erinnere mich, das war der Ertrunkene. Warte mal, ich ruf den Vorgang auf«, sagte Koivu, nachdem er mich über den jüngsten Präsidiumstratsch informiert hatte.
    »Das war vor drei Wochen, während der Herbststürme. Immonen war auf Rödskär, um den Zug der Kraniche zu beobachten.
    Er ist offenbar im Morgengrauen ans Westufer gegangen. Die Spuren im Moos deuten darauf hin, dass er ausgerutscht, mit dem Kopf an einen spitzen Stein geschlagen und bewusstlos ins Wasser gefallen ist. Im Blut wurden 0,6 Promille festgestellt, anscheinend hatte er am Abend eine Flasche Rotwein getrunken.
    Er war allein auf der Insel gewesen und wurde am nächsten Tag nur zufällig gefunden, weil ein Vertreter der Firma, der die Insel gehört, dort anlegte und sich über den Schlafsack und die sonstige Ausrüstung im Gästehaus wunderte.«
    »Es war also eindeutig ein Unfall?«
    »Ich habe mich selbst dort umgeschaut. Die Westküste ist sehr steil, und du weißt ja, wie glitschig diese Felsen bei Regen werden. Die Techniker meinen, Immonens Spektiv sei ins Rutschen gekommen und beim Versuch, es festzuhalten, sei er abgestürzt. Warum fragst du? Kanntest du ihn?«
    »Ja, aber das ist Jahre her.«
    Ich hatte damals nicht lange über Harris Tod sinniert, denn in den ersten Monaten nach Iidas Geburt war ich durch den Schlafmangel wie benebelt. Harri verschwand wieder in den Tiefen meiner Erinnerung.
    Als wir dann aber auf der Seekarte nach einem geeigneten Ziel für unseren Ausflug suchten, hatte ich Rödskär vorgeschlagen, als müsste ich mit eigenen Augen sehen, wo mein Exfreund gestorben war.
    Das Wasser war graugrün wie gegorene Erbsensuppe. Am Vorabend hatten wir fast anderthalb Stunden nach einem Ankerplatz suchen müssen, an dem es keine Blaualgen gab, denn wir wollten schwimmen und hatten außerdem nicht genügend Süßwasser an Bord, um damit zu spülen und Iida zu waschen. Antti hatte wehmütig und wütend zugleich von dem klaren Meerwasser in seiner Jugend erzählt, in dem man sogar Kartoffeln kochen konnte. Bei der ungewöhnlichen Hitze in diesem Sommer war der Algenbrei vom offenen Meer bis in die inneren Schären und schließlich sogar an die Badestrände von Espoo vorgedrungen.
    Einen halben Kilometer vor dem Ufer holten wir die Segel ein.
    Es schien mir fast unmöglich, zwischen der schroffen Felsküste und den aus dem Uferwasser ragenden Steinen einen sicheren Anlegeplatz zu finden, doch Antti behauptete zu wissen, wo der Hafen sei. Das letzte Stück tuckerten wir mit Motorkraft gegen den Südostwind, der uns an die Felsen zu drücken drohte. Antti hielt unbeirrt auf die Ostküste der Insel zu, wo sich tatsächlich hinter einem Felsvorsprung ein kleiner Hafen auftat. Iida knabberte an einem Zwieback, und ich stand bereit, um mit dem Tau auf den Bootssteg zu springen, als vom Ufer her jemand
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