Der Wind bringt den Tod
Generator. Die in ihm pochenden Kolben und Zylinder ließen ihn zucken und ruckeln, als wäre er lebendig. Geduckt huschte Jule auf ihn zu. Abgasgestank stieg ihr in die Nase. Ob sie den Generator ausschalten sollte? Aber wie? Damit vielleicht? Ein großer runder Knopf, der auffällig aus dem Metallgehäuse einer Bedienkonsole herausragte. Das musste der Notstopp sein. Sie streckte ihre Hand nach dem Knopf aus. Ein warnendes Bild blitzte durch ihr Hirn: Caro in einem feuchten Kellerloch, das von einer einzigen nackten Glühbirne erleuchtet wurde. Wollte sie riskieren, Caro durch das Ausschalten des Generators in plötzlicher Finsternis versinken zu lassen?
Jule zog die Hand zurück. Ganz langsam. Ein Generator erzeugte Strom. Dafür war er da. Aber wo ging der Strom hin? Sie besah sich den Generator näher. Ein Kabel so dick wie ihr Handgelenk wuchs an einer Seite aus der Maschine. Das war sie: die Spur, der sie tiefer in das Reich von Rolfs Wahnsinn folgen konnte. Sie murmelte wieder und wieder ihr Mantra gegen die Angst, während sie sich Schritt für Schritt am Kabel entlangtastete. Es führte durch einen Durchlass in der Scheunenwand zur Rückseite des Haupthauses, wo es durch den Spalt einer angelehnten Tür verschwand.
Jule nahm all ihren Mut zusammen und öffnete die Tür ganz. Im Raum dahinter standen ein wuchtiger alter Herd und ein Tisch mit drei Stühlen. Pfannen, Töpfe, Kochlöffel, Kellen und andere Utensilien hingen an Haken an den Wänden. Eine Küche. Eine Küche, in der wohl seit vielen Jahren keine Nahrung mehr zubereitet worden war. Das Feuer, das im Obergeschoss des Gebäudes gewütet hatte, hatte diesen Raum offenbar verschont. Staub wirbelte über dem Herd auf, als die Tür hinter ihr wieder zufiel.
Jule hörte gedämpfte Musik aus dem Innern des Hauses. Die Härchen an ihren Armen richteten sich auf. Was machte sie hier eigentlich? Wieso glaubte sie, Rolf würde sich allein durch ihr Erscheinen von seinem blutrünstigen Treiben abbringen lassen? Das war völlig verrückt.
Vorsichtig zog sie die Küchentischschublade auf. Sie fand, was sie suchte. Eine Waffe. Sie nahm das Messer mit der längsten Klinge. Der schwere Griff war aus rauem Holz. Sofort fühlte sie sich etwas sicherer.
Das Kabel wand sich quer durch die Küche in eine Diele hinaus und von dort eine Treppe in den Keller hinunter, aus dem Licht nach oben schien. Die Musik wurde mit jedem Meter, den Jule zurücklegte, lauter.
»Meine Angst gehört zu mir«, wisperte sie. »Aber ich bin nicht meine Angst.«
Auf wackligen Knien schlich sie die Treppe hinunter. Sie fluchte stumm bei jedem noch so leisen Knarzen der Stufen, obwohl die Musik so laut war. Am Fuß der Treppe angelangt, erstarrte Jule. Träumte sie? Sie biss sich auf die Unterlippe. Nein, das war kein Traum. Wo war sie hier nur gelandet? Welche Welt hatte sich Rolf zum Ausleben seiner verirrten Triebe geschaffen?
Vor Jule lag ein kurzer Gang. Er war komplett in einem leuchtenden Pastellrosa gestrichen, ebenso wie die Tür, die seinen Abschluss bildete, und der Verteilerkasten an der Wand, in dem das Kabel endete. In geschwungenen schwarzen Lettern stand sein alter Name auf der Tür. Links und rechts daneben spendeten zwei Tiffanylampen auf kniehohen Beistellschränkchen ein trügerisch angenehmes Licht.
Jule hielt das Messer schützend vor sich. Sie konnte jetzt nicht mehr umkehren. Caro war hier. Sie wusste es einfach. Caro brauchte sie. Sie schlich zu der Tür und lauschte daran. Sie hörte nichts – außer dem Lied. Billiger Plastikpop. Sie drückte die Klinke hinunter und riss die Tür auf.
Auf den ersten Blick hätte Jule meinen können, dass sie in einem Fotostudio oder der Garderobe eines kleinen Theaters stand. Nackte Neonröhren tauchten die Szenerie in ein grelles kaltes Licht. Die vordere Hälfte des Raums war mit Kleiderständern zugestellt. An zahllosen Bügeln hingen Bekleidungsstücke aller Art – Hosen, Röcke, Kleider, Blusen, Jacken, Mäntel, Dessous – in unterschiedlichsten Farben, Schnitten und Materialien. Die Kleider mussten alle in etwa dieselbe Konfektionsgröße haben. Es war Kirsten Küvers Größe. Ihre Größe.
Die eine Ecke unmittelbar neben der Tür wurde von einer verschnörkelten Schminkkommode mit einem Triptychon ovaler Spiegel ausgefüllt. Lippenstifte, Lidschatten, Rouge- und Puderdöschen, Kajal, Großpackungen mit Wattebäuschen, Wimperntusche, Pinsel und Quasten waren streng nach Farben geordnet in Dutzenden Fächern
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