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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod
Autoren: Ole Kristiansen
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verstaut.
    Aus der anderen Ecke schlug Jule ein unangenehm vertrauter Gestank entgegen. Stechende Säure wie von altem Schweiß. Wie im Kofferraum ihres Wagens. Auf einer Werkbank waren Zangen, Scheren, Messer und ein klobiger Tacker von der Sorte aufgereiht, mit dem ein Handwerker Folien oder Spanpressplatten an Latten und Rahmen fixierte. Der Gestank kam aus einem großen weißen Plastikkanister, auf dessen Vorderseite das Warnsymbol für ätzende Chemikalien, eine zerfressene Hand, aufgeklebt war. Auf der Werkbank stand auch die Quelle der lärmenden Musik: ein alter tragbarer CD-Spieler, der von Herzchen- und Ponystickern übersät war.
    Der hintere Teil des Raums stand dem vorderen in seiner Atmosphäre des absoluten Irrsinns in nichts nach: Die gesamte Rückwand war eine einzige Fototapete von einem tropischen Strand mit Palmen, strahlend weißem Sand und glasklarem blauem Meer. Der Boden davor war knöcheltief mit Sand ausgestreut, um die klägliche Illusion zu erzeugen, dass sich der ferne Strand in diesen Keller in der norddeutschen Provinz hinein erstreckte. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch eine Plastikpalme, einen Sonnenschirm und einen Liegestuhl.
    Die Frau, die darauf geschnallt war, trug ein altmodisches Brautkleid samt Korsett. Es war so straff geschnürt, dass zwei große Männerhände die Taille mühelos hätten umschließen können. Schwarzes Panzertape versiegelte den Mund der Frau, deren Augen geschlossen waren.
    »Caro!« Jule hastete auf den Liegestuhl zu. Sie kniete sich in den Sand und schüttelte ihre Freundin. »Caro! Caro!«
    Lebte Caro überhaupt noch? Ihre Nase war nur noch ein blau geschwollener Klumpen. War Jule zu spät? War Caro schon lange erstickt?
    Endlich riss Caro die Augen auf.
    »Ich bin’s, Caro«, sprudelten die Worte aus Jule. »Ich hol dich hier raus. Ich hol dich hier raus.«
    Caro antwortete ihr mit einem erstickten Laut.
    Jule klemmte sich das Messer zwischen die Zähne. Mit dem Geschmack von Stahl auf der Zunge löste sie den Riemen, der Caros rechten Arm fesselte. Caro bäumte sich auf und langte panisch nach Jules Handgelenk. »Ganz ruhig!« Jule schlug Caros Arm beiseite. »Ganz ruhig.«
    Caro tastete nach dem Tape auf ihrem Mund und zerrte es von ihren Lippen. Schaler, fauliger Atem – eine widerliche Mischung aus Blut, Galle und einer undefinierbaren süßlichen Bitternis – wehte Jule entgegen. »Ich hatte … ich hatte die Beine über kreuz«, jammerte Caro heulend. »Ich hatte die Beine über kreuz.«
    Jule hatte keine Ahnung, wovon Caro redete. Es war ihr auch egal. Sie hatte nur noch ein Ziel vor Augen. Sie mussten hier raus. Hier raus und zu ihrem Auto. Schnell.
    Jules Finger fanden die nächste Schnalle. Sie hielt inne. Etwas war anders. Etwas war nicht mehr so wie noch eben. Aber was?
    »O Gott. O Gott. O Gott. Nein, nein, nein.« Caro wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.
    Das war es: Die Musik war aus!
    Jule wusste, was das hieß. Sie überließ sich ihren Instinkten. Er durfte nicht gewinnen. Nicht jetzt! Nicht jetzt, da sie es fast geschafft hatte. Sie beugte sich ein Stück tiefer über Caro. Das Messer wanderte von ihrem Mund in ihre linke Hand. Sie war nicht wie seine anderen Opfer. Sie war nicht wehrlos. Sie wusste, wer und was er war. Sie verbarg das Messer hinter ihrem Oberschenkel, als sie sich langsam in Richtung der Tür umdrehte.
    Er stand reglos am Rand des improvisierten Strands, eine Papiertüte mit dem Logo eines Baumarkts darauf unter dem Arm. Über den Rand der Tüte ragte die Tülle einer Silikonspritze. Sein Blick ruhte unbeirrt auf Jules Gesicht.
    Überrascht stellte Jule fest, dass nacktes Grauen einen Geschmack entwickeln konnte – ein bittersaures Aroma, wie wenn man in einen unreifen Apfel biss.
    »Kirsten?« Ein Lächeln glitt über seine Züge. Für einen Wimpernschlag erahnte Jule, wie der kleine Junge ausgesehen haben musste, der gern mit Puppen gespielt und Mädchen geschminkt hatte. Der kleine Junge, der sich inzwischen in ein wahnsinniges Monstrum verwandelt hatte. »Ich wusste immer, dass du zu mir zurückkommst.«

151
     
    Kirstens Spiel war vorbei. Und was für einen schönen Schluss es hatte! Sie war zu ihm gekommen, an den sicheren Ort. Wollte sie auch mit der Frau spielen? Das konnte sein. Sie brauchte nicht mehr zu tun, als wäre sie jemand anderes. Und er brauchte das auch nicht mehr. Sie kannte ihn. Sie wusste genau, wer er war. Sie war die Einzige, bei der er jemals hatte er selbst sein
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