Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein
Autoren: David Schönherr
Vom Netzwerk:
genügte ein Blick auf ihn, um Hobrechts eigene Hirngespinste ins Unermessliche anwachsen zu lassen – bis sie sich zu einem furchtbaren Verdacht verdichteten: Ferdinand würde Hobrecht ins Unglück stürzen.
    Nach all dem, was er für die Menschen und vor allem für Ferdinand getan hatte!
    Dieses Unglück manifestierte sich für Hobrecht in dem entsetzlichen Verdacht, seine bisher geleistete Hilfsbereitschaft könnte völlig umsonst gewesen sein. Die Menschen, sie lebten durch seine Unterstützung nicht besser, sie waren auch nicht zu besseren Menschen geworden; ja, es lag die Vermutung nahe, dass niemand Hobrecht seine Taten wirklich dankte: nicht die Hilfesuchenden, nicht die anderen Menschen, nicht einmal Gott.
    Plötzlich sah Hobrecht klar: Er fürchtete sich.
    Vor der schwindenden Wertschätzung seines Handelns und Mitfühlens.
    Vor seiner unverkennbaren Bedeutungslosigkeit.
    Vor seinem eigenen Tod.
    All diese unangenehmen Gedanken bündelten sich in Ferdinands bloßer Anwesenheit.
    Der Junge musste fort, so ging es Hobrecht durch den Kopf. Weg damit, zum Bros, am besten noch heute!
    Allerdings hegte Hobrecht gegen sämtliche Mitglieder der Malereizunft eine tiefe Verachtung. Ein Kunsthändler aus der Nachbarstadt hatte nämlich einst einen frühen Entwurf seines Marienbildes als kläglichen Schund bezeichnet, nachdem der Pfarrer vor einigen Jahren diesen Kenner um seine geschulte Meinung gebeten hatte.
    Diesem Bros solch ein Geschenk zu machen, davon hielt Hobrecht überhaupt nichts.
    Die bloße Anwesenheit des Jungen hatte ihm selbst natürlich weder zusätzliche Zeit noch ausreichend Muße beschieden, um sich an jenes unvollendete Werk heranzuwagen – ganz im Gegenteil: Durch Ferdinand und seine Bilder wurden ja manche Mitglieder der Gemeinde nur noch stärker verunsichert, baten den Pfarrer noch häufiger um Rat – den Hobrecht nun grundsätzlich verweigerte – und belasteten dabei das früher so gerühmte Kunsthandwerk mit zahlreichen kritischen Äußerungen.
    Kurzum: Die Aussicht, sich Ferdinands Talent zu bemächtigen, ohne seine Pflichten als Pfarrer, Lehrer und Mensch zu vernachlässigen – und natürlich seinen eigenen Ruf zu gefährden –, diese Aussicht erschien Hobrecht unerfüllbar.
    Er überlegte; seine frühere Hilfsbereitschaft rebellierte gegen den gefassten Entschluss. Kurzerhand entschied er, vom Meister für den Jungen eine großzügige Gegenleistung zu erbitten – gewissermaßen als Ausgleich für das nach wie vor unvollendete Marienbild.
    Erst, als der Brief fertig war, fiel Hobrecht ein, dass er vor wenigen Tagen vom Tod von Ferdinands Onkel gehört hatte. Kurz zögerte er; dann schickte er den Brief trotzdem ab.
    Sein Amt verpflichtete ihn immerhin zu derartigen Absicherungen.
    * * *
    Bros war nicht begeistert, von Hobrecht einen Lehrling aufgezwängt zu bekommen; er verlangte dafür zudem ein stattliches Lehrgeld. Kaum holte Hobrecht jedoch jene Blätter hervor, die Ferdinand mit Kohle gezeichnet hatte, huschte ein Leuchten über Bros’ Gesicht. Er blätterte die Zeichnungen durch, und innerhalb kürzester Zeit weichte seine versteinerte Miene auf, seine vollen Wangen wurden fahl und Bros stand zuletzt mit offenem Mund da. Er drehte und wendete alle Werke, starrte den Blätterberg zuletzt ungläubig an und murmelte plötzlich, man solle den Jungen morgen vor Sonnenaufgang zu ihm bringen.
    Während Hobrecht alles zusammenrollte, durchwühlte Bros die Taschen seiner Kleidung nach den vom Pfarrer erbetenen Münzen und händigte sie diesem schließlich aus. Hobrecht nahm das Geld schweigend an, ließ es eilig in seinem Beutel verschwinden und überreichte dem Meister die Zeichnungen, die unter Ferdinands Matratze entdeckt worden waren.
    * * *
    Am nächsten Morgen, vor Sonnenaufgang, brachte der Pfarrer Ferdinand zum Haus des Meisters. Auf dem Weg dorthin teilte er dem Jungen in wenigen Worten mit, dass er von nun an beim Meister Bros in die Lehre gehen werde. Ohne weitere Erklärungen oder ein nennenswertes Wort des Abschieds ließ er ihn dann allein.
    Als Hobrecht wieder im Pfarrhaus ankam, verfiel er in langes Grübeln.
    Noch nie in seinem Leben hatte er Geld für eine derartige Gefälligkeit genommen – und jetzt vermachte er dem alten Brummbär das Talent, das er für sich selbst erhofft hatte. Nicht ein einziges Mal hatte er sich an diese aufgeschobene Arbeit wieder herangewagt, ja, er hatte während Ferdinands Anwesenheit mehrfach darüber nachgedacht, das Bildprojekt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher